Katharsis im klientenzentrierten Konzept
Gliederung: Zur Definition - Allgemeine Annahmen - Spezielle Hypothesen
Empirische Hypothesen benötigen einen theoretischen Kontext. Darum zunächst
Definitorisches.
Freud:
Psychokatharsis ist Reinigung, heilsame Abfuhr pathogener Affekte, also
Abreaktion wiedererinnerter, wiederbelebter Gefühle, die ehemals nicht adäquat
ausgedrückt wurden, sich verklemmten und dadurch ein pathogenes Eigenleben
entwickelten.
Nichols & Zax 1977 :
Katharsis ist der Abschluß einer Handlungssequenz, das In-Kontakt-Kommen mit
Gefühlen und dem Ausdruck von Gefühlen.
Scheff & Bushell 1984:
Zyklen der Katharsis:
Stimulus (z.B. Verlust), Erregung (z.B. Traurigkeit), Klimax (z.B. Weinen),
Enstpannung (z.B. Lachen). Ein vollständiger Zyklus umfaßt alle vier Stadien
(Katharsis), ein unvollständiger nur zwei oder drei und führt zu Symptomen.
Nichols & Efran 1985:
Zwei-Stufen-Prozeß der Gefühle:
- Gefühlsunterdrückung
- Komplettierung früher versäumter Verhaltensmuster von Selbstausdruck.
Nach dem Konzept von Rogers läßt sich Katharsis aus einem Zyklus der Wahrnehmungsabwehr verstehen:
1. Eine Bedrohung ist für eine unverzerrte Wahrnehmung zu stark.
2. Die mangelhafte Symbolisierung führt zu einem Zustand der Inkongruenz.
3. Der Organismus kommt unter Spannung.
4. Das Individuum erlebt Angst.
5. Spannung und Angst bedeuten Streß für den Organismus.
6. Der Streß bindet Energie.
7. Die gebundene Energie behindert die weitere Entwicklung (Aktualisierung und Selbstaktualisierung).
8. Diese Entwicklungsstörung wird als inkongruent mit dem Selbstideal erlebt.
9. Diese Inkongruenz ist eine Bedrohung, die nur unvollständig wahrgenommen werden kann.
Damit schließt sich der Kreis. Ein sich selbst aufrechterhaltender oder sich gar selbstverstärkender Teufelskreis ist installiert, der Organismus gerät unter Dauerstreß.
In der Therapie wird die Möglichkeit geschaffen, abgewehrte Wahrnehmungen doch zu erfahren. Unter bestimmten Bedingungen kann der Zusammenbruch der Abwehr sehr plötzlich geschehen. Die Symbolisierung wird genauer, Gefühle können zugelassen werden, sowohl Emotionen als auch Kognitionen. Die Folgen der unverzerrten Symbolisierung sind Extensionalität, Selbstkongruenz, Offenheit, Echtheit, Befreiung, Erleichterung, Entspannung.
Das klientenzentrierte Konzept kennt das Phänomen der Katharsis, nicht aber den
Begriff. Als Definition im klientenzentrierten Konzept schlage ich vor:
"Psychokatharsis ist der Ausdruck von Gefühlen, chrakterisiert durch:
- Zusammenbrechen der Abwehr bei unvollständiger und jetzt zunehmender Symbolisierung einer Erfahrung
- Umstrukturierung einer Inkongruenz zwischen Wahrnehmung und Selbsterfahrung in Richtung Selbstkongruenz
- nachfolgende organismische Lösung."
Kathartische Prozesse zeigen sich nicht nur ausnahmsweise in
klientenzentrierter Therapie, sondern sind konstituierendes Merkmal jeder Psychotherapie: die Wahrnehmung von bisher abgewehrten Erfahrungen und die Befreiung der damit verbundenen Gefühle.
Katharsis ist nicht die einzige Möglichkeit der Symbolisierung, aber immer notwendig bei verzerrter Symbolisierung nach aufgetretenen Inkongruenzen.
Die Vehikel der Katharsis reichen von der Selbstexploration über Experiencing, Körperausdruck (Tanzen, Singen, Lachen, Schreien), Wüten und Weinen bis zu extremen eruptiven Ausbrüchen.
Katharsis ist teilbar: Es können erst leichtere Formen der Inkongruenz bearbeitet werden.
Katharsis hat ein physiologisches Korrelat. Chronifizierte Abwehr bindet
Energien, führt zu Dauerstreß. Katharsis überführt die Energien in Eustreß, der
Entspannung ermöglicht.
Kathartische Prozesse folgen den Gesetzen der Frustrations-Aktivierungs-Hypothese.
Frustrationen lassen sich auch nachträglich verarbeiten.
Katharsis ist von Ausagieren zu unterscheiden.
Katharsis ist von spontanen Gefühlsausbrüchen als Reaktion auf Frustrationen (bei denen zuvor keine Gefühlsunterdruckung stattfand) zu unterscheiden.
Katharsis ist das emotionale Pendant zum (kognitiven) Aha-Erlebnis.
Die Energie, die bei der Katharsis frei wird, stammt nicht allein aus der Spannung (die ebenfalls Energie benötigt), sondern vor allem aus der emotionalen Umstrukturierung, aus der plötzlich erfahrenen Selbstkongruenz.
Kathartische Prozesse werden einerseits durch Abwehr (Angst, Spannung), andererseits durch Entspannung (zu frühe Tröstung etc.) begrenzt.
Katharsis hat eine Kommunikationsfunktion: Es ist die Wiederholung einer ehemals unbeantworteten Frage.
Gefühle vor einer Katharsis sind beschreibbar mit Begriffen wie Angst, Spannung, Streß, Panik, Verkrampfung, Ärger, Depression, Leere.
Gefühle während des Ausdrucks von Gefühlen sind beschreibbar mit Begriffen wie Zorn, Wut, emotionaler Schmerz, Haß.
Gefühle nach einer Katharsis sind beschreibbar mit Begriffen wie Entspannung, Lösung, Erleichterung, Freude, Glück, Liebe.
1: Emotionalität: Kognitionen allein verändern Fehleinstellungen nicht, hilfreich sind sie nur so weit, wie sie entsprechende Gefühle hervorrufen oder ändern können. Nur Emotionen motivieren, nur sie liefern die notwendige Grundlage für eine Einstellungs- und Verhaltensänderung.
2: Expressivität: Die Richtung der Katharsis muß nach außen gewandt sein, nicht nach innen wie bei Depressivität und Selbstbestrafungen (mit dem Kopf durch die Wand wollen, sich Haare ausreißen).
3: Authentizität: Nur der Ausdruck echter, unmittelbarer Gefühle ist hilfreich, nicht artig absolvierte Übungen oder hysterische Übertreibungen.
4: Aktualität: Gefühle können nur hier und jetzt ausgedrückt werden. Erinnerte Gefühle müssen erst in das Erleben gebracht werden.
5: Bewußtheit: Der Klient muß sich seines Tuns und seines Zustandes voll bewußt sein. Blindes Agieren entlädt zwar die Spannung des Organismus, ändert letztlich aber nichts an der Wahrnehmung der Situation; die Gründe für die Verletzung bleiben erhalten, werden nicht gesehen, eine Umstrukturierung kann nicht stattfinden.
6: Selbstverantwortung: Katharsis darf kein Ausbruch gegen jemanden sein, denn das würde eher wieder Schuldgefühle oder Reaktionen von außen provozieren, die neuerlich verletzen. Der Ausbruch muß erlebt werden als etwas, das der Klient für sich selbst tut, nicht als etwas, das er gegen andere richtet: "Ich bin wütend!" statt "Du bist ein Idiot!".
7: Bezogenheit: Es bedarf des Partners, wie es auch für die Fehlentwicklung der Beziehung bedurfte.
8: Sicherheit: Nur in der Geborgenheit kann der Klient das Risiko wagen, seine Abwehr zu lockern; Sicherheit gibt es nur in einer angstfreien Beziehung.
9: Festigkeit der Selbststruktur: Die Lockerung der Abwehr ist nur so weit indiziert, wie die Struktur des Selbstkonzeptes gefestigt ist. Allzu heftige Gefühlseruptionen könnten sonst die Realität verstellen.
10: Notwendigkeit: Zur Definition von Katharsis gehört, daß eine emotionale Verletzung bisher unbearbeitet blieb und sich ein Spannungspotential erhielt, das bisher lediglich inadäquat (gewöhnlich als neurotisches Symptom) zum Ausbruch strebte, durch die Inadäquanz des Ausdrucks sich jedoch selbst wieder verfestigt. (Das Ausleben eines Symptoms erleichtert nur vordergründig, letzten Endes verletzt es neuerlich und verhindert Wachstum.)
11: Phänomenologie: Katharsis ist ein elementares Phänomen, das nicht unbemerkt bleiben kann. Jeder Versuch, eine stattfindende Katharsis zu verbergen, behindert sie notwendigerweise.
12: Vollständigkeit: Dieses Kriterium zeigt sich darin, daß der Spannungszustand nicht nur verstärkt, sondern auch sichtbar wieder abgebaut wird, so daß nachfolgend eine Erleichterung eintritt: Der Spannungsbogen muß sich wieder schließen.
13: Regression: Da es sich um Gefühle aus der Vergangenheit handelt, konkretisiert eine entsprechende Regression das Erleben.
14: Passung:
Die Richtung der Gefühle muß passen. (Es genügt nicht, z.B. den Kindern die Wut zu zeigen, wenn sie dem Chef gilt.)
15: Trennung von Gefühl und Verhalten: Gefühle sind immer konsequent und damit richtig. Sie verdienen die volle Anerkennung des Klienten und seines Therapeuten. Nicht die Gefühle sind zu verantworten (z.B. Haß), sondern das damit begründete Handeln (Töten).
16: Subjekt-Objekt-Balance: Eine zu weite Distanz des Klienten zu seinem Ausdruck des Problems läßt seine emotionalen Phänomene nicht erlebbar werden, das Individuum bleibt Objekt seiner selbst. Eine zu geringe Distanz andererseits bedroht, macht eher Panik und läßt das Individuum sich nur als Subjekt erleben, sich seinen Gefühlen ausgeliefert und hilflos. Optimal ist eine Distanz, in der sich das Individuum zugleich als Objekt und Subjekt erlebt.
17: Verfügbarkeit: Das kathartische Erleben darf nicht singulär, zufällig bleiben, es muß wiederholbar, frei verfügbar sein, aber auch kontrolliert, sogar abgebrochen werden können.
18: Akzeptanz: Der Klient braucht die Annahme von seinem Gegenüber, das standhält. Fühlt sich der Partner selbst angegriffen und reagiert selbst defensiv statt akzeptierend, erfolgen Schuldgefühle (wie erwartet) statt Erleichterung.
19: Verständnis: Erst die Wahrnehmung des Verstehens und der Anerkennung durch ein Gegenüber befriedigt, befriedet.
Bedingungen für therapeutische Effektivität von Katharsis sind:
Exploration der Bedrohung, der Ängste, die zum Spannungaufbau geführt haben.
Exploration der Inkongruenzen
Exploration von Alternativen oder der Integration
Emotionale Umstrukturierung
Einstellungsänderung oder Konfliktlösung.
Spezielle Hypothesen
Es gibt keine Psychotherapie ohne (protrahierte oder eruptive) kathartische
Prozesse.
Kathartische Prozesse begünstigen den Therapieverlauf.
Kathartische Prozesse lassen sich beschleunigen.
Kathartische Prozesse lassen sich provozieren.
Beschleunigung und Provozierung kathartischer Prozesse begünstigen den
Therapieverlauf.
Es gibt ein individuelles Optimum der Beschleunigung von kathartischen
Prozessen.
Es gibt ein individuelles Optimum zwischen eruptiver und protrahierter
Katharsis.
Es gibt manipulierbare Bedingungen in der Gesprächspsychotherapie, die
Katharsis unterstützen rsp. behindern.
Es gibt unterscheidbare Typen von kathartischen Prozessen.
Für verschiedene Typen von Katharsis gibt es unterschiedliche
Indikationsstellungen.
Es gibt keine schmerzlose Katharsis.
Auch kathartisches Lachen ist mit Schmerzen verbunden.
Ergotrope physiologische Prozesse gehen einer Katharsis voraus.
Andere ergotrope physiologische Prozesse begleiten Katharsis.
Trophotrope physiologische Prozesse folgen der Katharsis.
Kathartische Prozesse haben ein energetisches Potential: sie sind entweder kurz
und heftig oder minder heftig und desto länger andauernd.
Kathartische Prozesse entspannen den Organismus und erleichtern damit kognitive
Prozesse.
Kathartische Prozesse werden durch die Sicherheit in der therapeutischen
Beziehung erleichtert.
Der kathartische Prozeß ist Verarbeitung eines Verlustes, einer Verletzung und
führt immer zum Erleben eines emotionalen Schmerzes.
Der Weg zur emotionalen Verletzung unterscheidet sich für verschiedene
Symptomatiken:
- Der Weg des Depressiven führt über Ärger und Wut.
- Der Weg des Psychosomatikers führt über Angst.
- Der Weg des Anankasten führt über Trotz und Angst.
- Der Weg des Psychotikers führt über Sicherheit in der Beziehung.