Versperrte und verzerrte Symbolisierungen.

Zum differentiellen Verständnis von Persönlichkeits- und neurotischen Störungen in theorie und praxis

 

Klaus Heinerth

 

 

Zusammenfassung

 

Rogers stellt der akkuraten Symbolisierung die verzerrte oder geleugnete gegenüber, wobei er weiter nicht zwischen einer geleugneten und einer verzerrten Gewahrwerdung unterscheidet. Beide Formen der Abwehr ver­steht er als Fehlentwicklung in seinem Konzept der Offenheit gegenüber Erfahrungen. es zeigt sich jedoch in der therapeutischen Praxis, dass eine aktiv abgewehrte Erfahrung, die verzerrt (bzw. mehr oder weniger bis voll­ständig geleugnet) wird, anders zu bewerten ist als eine Blockierung, die auf der Tatsache beruht, dass der Organismus in bestimmten Bereichen seine Erfahrungen nicht versteht, da er ein ganzheitliches Selbstkonzept noch überhaupt nicht hat aufbauen können. Wenn nämlich in der kritischen Phase der Selbstkonzeptentwicklung kein Gegenüber zur Verfügung stand, das empathisch die Erfahrungen des sich entfaltenden Organismus hatte begleiten können, haben sich bestimmte Aspekte des Selbstkonzepts nicht ausformen können. Damit sind später entsprechende organismische Erfah­rungen einer bewussten Zugänglichkeit versperrt und (im Gegensatz zu den verzerrten Erfahrungen) selbstempathisch nicht bewusst erfahrbar. Es wird die Hypothese diskutiert, dass verzerrte Wahrnehmungen (inklusive mehr oder weniger geleugnete Erfahrungen) neurotische Abwehrmaßnahmen sind, um das Selbstkonzept zu schützen, während versperrte Erfahrungen eher bei Persönlichkeitsstörungen zu beobachten sind, die durch ein Fehlen von bestimmten Selbstaspekten gekennzeichnet sind. Zusammen mit dieser Hypothese werden weitere Implikationen diskutiert: · Das Selbstkonzept macht in seiner Entwicklung einen qualitativen Sprung. · Persönlichkeits­störungen mit versperrten Symbolisierungen basieren eher auf einem Man­gel an empathischem Verstandenwerden in früher Kindheit, während neu­rotische Störungen erst später aus einer mangelhaften Unbedingtheit der Wertschätzung erwachsen. · Das Konzept des Prozess-Kontinuums über sieben Stufen der Offenheit gegenüber Erfahrungen von Rogers muss um eine Vor-Phase erweitert werden. · Die diskrepanz zwischen Selbst- und Idealbild quält Neurotiker, nicht persönlichkeitsgestörte Menschen. · mög­lichkeiten des Wachstums des Organismus gestalten sich je nach Störung unterschiedlich, verschiedene Kompensationen sind jeweils charakteris­tisch.

Implikationen für die therapeutische Praxis werden ausführlich diskutiert.

 

Gliederung

 

Ein qualitativer Sprung in der Entwicklung des Selbstkonzepts

Das Selbstkonzept und sein Beginn

Der Beginn eines jeden Systems

Organismische Erfahrungen

Zum aufbau des Selbst

Zum Ausbau des Selbst

Das Analogie-Haus zum Verständnis von Auf- und Ausbau des

Selbstkonzepts

Aktualgenese des affekts

Ontogenese des Selbstkonzepts

Die Entfaltung des Selbstkonzepts: Aufbau und Ausbau

Entwicklung der inkongruenz

Versagen von Empathie beim aufbau des Selbstkonzepts

Bedingte Wertschätzung beim Ausbau des Selbstkonzepts

Vergleich der Fehlentwicklungen

Unterschiede: Persönlichkeitsstörungen und neurotische Störungen

Zum Verhältnis beider Störungsformen

Phänomenologie der Störung

Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens von Personen mit

Persönlichkeitsstörungen

Versperrtes Bindungserleben

Anpassung über Vernunft

Zerrissenheit

Versperrte Schmerzerfahrungen

Unverstandene Wut

Angst vor Gefühlen

Versperrte beschämung und Schuldgefühle

Angst/Panik

Misstrauen

Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme

Die Reichweite der Skala zur Prozesserfahrung

Persönlichkeitsgestörte Klienten entwickeln durch Wachstum neurotische

Phänomene

Neurotische Verzerrung

Änderung des Selbstkonzepts

Differenzielle Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und

neurotischen Störungen.

Symptomgestaltung

Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen

Schlussbemerkungen

Literatur

Ein qualitativer Sprung in der Entwicklung des Selbstkonzepts

 

Das Selbstkonzept und sein Beginn

 

Zwei Thesen von Rogers (1951) suggerieren, dass sich das Selbst kontinuierlich entwickelt:

 

These VIII: "Ein Teil des gesamten Wahrnehmungsfeldes entwickelt sich nach und nach zum Selbst."

 

These IX: "Als Resultat der Interaktion mit der Umgebung ... wird die Struktur des Selbst geformt - eine organisierte, fließende, aber durchweg begriffliche Struktur von Wahrnehmungen von Charakteristika, Beziehungen des 'Selbst', zusammen mit den zu diesen Konzepten gehörenden Werten.“

 

Auch seine Definition des Selbst geht von einer Ganzheit aus: "Man kann es sich als eine strukturierte, konsistente Vorstellungsgestalt denken. ... Diese Gestalt ist zwar fließend und veränderlich, aber sie ist in jedem Augenblick eine Einheit." (1975: deutsch 1977, S. 35)

 

Phänomenologisch erscheinen diese Annahmen richtig, nicht jedoch logisch-systematisch: Wie von jedem System, das sich entwickelt, kann auch von der Entwicklung des Selbstkonzepts erwartet werden, dass es qualitative Sprünge aufweist, nämlich mindestens zwischen den beiden unterscheidbaren Phasen des Auf- und des Ausbaus. Für das Selbstkonzept gelten die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie für alle offenen Systeme am anfang  ihrer Entwicklung:

 

Der Beginn eines jeden Systems

 

Alle sich selbst organisierenden offenen Systeme haben mindestens zwei unterscheidbare Phasen: Die Startphase und eine Phase der Blüte und Differenzierung (Phasen eines Endes, des Zusammenbruchs oder eines grundsätzlichen Wandels soll hier nicht erörtert werden). Dieses Phänomen der Phasenteilung ist obligatorisch für jeden Beginn eines Systems. Diesen Umstand kann man bei den unterschiedlichsten Phänomenen beobachten. Der Kasten „Phasen von Systemen“ zeigt 40 Beispiele, willkürlich zusammengestellt und alphabetisch geordnet, die diese Phasentrennung veranschaulichen sollen, auch wenn es unterschiedliche Begriffe für die beiden Phasen gibt.


 

 
Phasen von Systemen

System             Phase I: Aufbau, Start               Phase II: Ausbau, Betrieb

 


Angst                     Entstehung                    Aufrechterhaltung

Auto                              Fertigung                               Betrieb                  

Beruf                      Lehre/Studium                      Berufstätigkeit              

Beziehung              Aufnahme                      Gestaltung            

Bildung                  Ausbildung                    Fortbildung

biologische Art      Entstehen                              Ausdifferenzierung

Computer                      Hochfahren                    Betrieb

Curriculum            Entwicklung                  Anwendung

Drama                    Konzipierung                 Aufführung

Epidemie                Bildung                          Ausweitung

Familie                   Gründung                      Leben

Fertigkeit                       Erwerb                          Ausübung

Fest                        Warming up                  rauschendes Fest

Feuer                      Entzündung                   Brand    

Firma                     Gründung                      Führung

Garten                    Anlegung                               Pflege

Gerät                      Montage                        Betrieb

Gesetz                    Entwicklung                  Umsetzung

Grippe                   Inkubation                     Ausbreitung  

Gruppe                  Kontaktaufnahme          Kontaktgestaltung

Haus                      Bau/Aufbau                   Ausbau                 

Herrschaft              Aufrichtung                   Ausübung

Inflation                 Verursachung                Aufrechterhaltung

Klinik                     Gründung                      Leitung

Konsens                 Schaffung                      Konsolidierung

Krebs                     Entstehung                    Wucherung

Kultur                    Ursprung                              Blüte      

Leben                     Entstehung                    Fortpflanzung, Vererbung

Motor                    Start                              Betrieb

Partei                     Parteigründung              Parteiarbeit

Partnerschaft         Verliebtsein                   Lieben           

                               Aufbau                         Ausbau, Gestaltung

Selbstkonzept       Entstehung                   Anpassung

        Einrichtung                  Umstrukturierung

        Errichtung                    Differenzierung

 
 

 

 

 

 

 


Siedlung                 Gründung                      Bestehen, Florieren

Symptom                      Bildung                          Blüte

Theorie                  Formulierung                 Bewährung

Universität             Gründung                      Führung                

Universum             Urknall                          Existenz

Vertrieb                 Organisation                  Operation

Werkzeug               Fertigung                               Einsatz

Wirklichkeit           Konstruktion                 Bewährung.


Der qualitative Sprung wird besonders deutlich bei der Entwicklung des biologischen Lebens (Aufbau einer Reproduktionsfähigkeit und die weitere sich selbst entfaltende Fortpflanzung genetischer Information) und der Entwicklung von Kulturen (von einer so genannten primitiven Kultur zu einer Hochkultur, die völlig neue Kriterien des menschlichen Bewusstseins mit sich bringt und zur Entwicklung des Homo sapiens zum Homo sapiens sapiens führt. (Diesen Sprung in der Phylogenese vom unreflektiert lebenden und fühlenden Menschen zum Menschen mit Bewusstsein hat Julian Jaynes in seinem Buch "Der Ursprung des Bewusstseins" sehr eindrücklich herausgearbeitet.)

 

Im Zentrum unseres Interesses steht ein solcher Sprung in der menschlichen Ontogenese. Der Mensch wird nicht mit seinem fertigen Selbst geboren, er muss es sich erst erarbeiten. Hier gibt es einen qualitativen Sprung vom Aufbau zur Differenzierung des Selbst, wobei uns in diesem Zusammenhang nicht nur die Entwicklung als solche interessiert, sondern auch die Störungen in diesen beiden Phasen, die naturgemäß zu jeweils unterschiedlichen Konsequenzen für die weitere Entwicklung führen müssen. Im schlimmsten Fall verhindern Störungen während der Aufbauphase des Selbst den Übergang zur nächsten, der Differenzierungsphase: Wo nichts ist, kann auch nichts wachsen. Jede Differenzierung bleibt dann fundamental gestört, ein wirklich konsistentes Selbst wird nicht errichtet.

 

 

Organismische Erfahrungen

 

Zunächst soll verdeutlicht werden, was die Grundlagen jeder Selbstkonzeptentwicklung sind. Kasten "Organismische Erfahrung" zeigt diese Grundlage jeder Selbstentfaltung und veranschaulicht, wie aus der Bewertung einer veränderung in der Bedürfnislage von affekten, besonders, wenn sie auf angeborenem bedarf  beruhen, je nach der Erfahrung von Befriedigung oder Frustration, die unterschiedlichsten gefühle hervorgerufen werden. Diese Gefühle und ihr Ausdruck signalisieren die Bedürfnislage anderen, die für das Wohlergehen des organismus verantwortlich sind, so lange die Person dies nicht selbst sein kann. Diese Rückkopplung bedarf der Einfühlung, ohne die der Organismus verloren wäre: Er würde seine bedürfnisse nicht befriedigt bekommen und nicht verstehen, und wird so später nicht wissen können, wer er ist und was er braucht und will.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


         A                   B                  C                     D                    E                    F       

                             

Rückkopplung über Erfahrungen aus:

- der sozialen Umwelt,

- aus dem eigenen Organismus

- über Selbsterfahrungen

 
                  

 

 

 

 

Psychotherapie ist

     -    die Wahl (Weisheit) der richtigen Entscheidung:

repulsive oder propulsive Lösungsversuche

     -    psychokathartischem Ausdruck:

von A nach B oder von C nach D und D nach E

     -   Offenheit für Befriedigung: F

 

 

-           

 
 

 

 

 

 

 

 


 

 


Es etabliert sich so ein zirkel zwischen dem Organismus, seiner Bedürfnislage, dessen Ausdruck und empathischem verstanden-Werden sowie den Konsequenzen, die eine Veränderung der Bedürfnislage bewirken  -  oder auch nicht. Die wiederholte verbale Begleitung dieses Vorgangs ermöglicht dessen bewusste Wahrnehmung und Bennennung. Metaphern korrespondieren so mit organismischen Erfahrungen. Dieser Zirkel auf allen relevanten Ebenen ist das Fundament für den Aufbau des Selbstkonzepts zu einer organisierten Ganzheit. So ist die verbale Kommunikation für den aufbau des Selbstkonzepts unumgänglich. Organismische Erfahrung "existiert; aber wie wir sie sehen, basiert auf metaphorisch gebildeten Annahmen. Was uns einfällt, wenn wir sie sehen, hängt immer mit Bekanntem zusammen, das dafür als Metapher genommen wird. Die dinge existieren unabhängig von ihrer benennung. Aber ohne sprache, die die Metaphern bereitstellt, können wir sie nicht sehen." (Weizenbaum 2000).

 

Zum aufbau des Selbst

 

Die Entwicklung des Selbstkonzepts umfasst verschiedene Inhalte entsprechend den unterschiedlichen Bedürfnissen. In der ersten Phase werden die einzelnen Aspekte des Selbstkonzepts aufgebaut, bis eine ganzheitliche Gestalt die Identität bildet. Fehlt in dieser Phase die Empathie für einen Aspekt des Selbstkonzepts, so wird das Selbstkonzept hier eine Lücke aufweisen, z.B. aggressiven Impulsen verständnislos ausgeliefert sein.

 

Mit der Entwicklung des Selbst vor der Erreichung der ersten Stufe der organisierten Ganzheit hat sich Rogers kaum beschäftigt. Immerhin unterscheidet er zwei Charakteristika des gestörten Verhaltens, die typisch für die beiden Phasen sind: Das abwehrende oder neurotische und das desorganisierte Verhalten. Beim abwehrenden Verhalten geht er davon aus, dass das Selbst an sich intakt ist und im Bemühen, sich intakt zu halten, kämpfen, abwehren muss. Hier geht es um Selbstbehauptung, Selbstbefestigung. Für den Fall der Desorganisation bedeutet das, dass die organisierte Ganzheit zu Zeiten nicht vorhanden ist, entweder überhaupt nicht aufgebaut wurde oder unter zu großer Belastung zusammenbricht. Eine abwehr findet dann nicht mehr statt. Desorganisiertes Verhalten entsteht, wenn das Selbstkonzept keine Kategorien bereithält, die ablaufenden organismischen Prozesse zu verstehen.

 

 

Zum Ausbau des Selbst

 

Nachdem das Selbstkonzept eine erste und ganzheitliche Form erhalten hat, geht es für den sich entwickelnden Organismus darum, die einzelnen Inhalte (Bindungsrepräsentanz, Angsterfahrung etc) zu differenzieren und die angeborenen Bedürfnisse zu verfeinern (z.B. einzelne Vorlieben und ihre Befriedigung). Dieser Ausbau des Selbstkonzepts ist nur für solche Inhalte möglich, die im Selbstkonzept tatsächlich eine Repräsentanz haben, weil sie zuvor aufgebaut wurden.


 

Das Analogie-Haus zum Verständnis von Auf- und Ausbau des Selbstkonzepts

 

Zur Veranschaulichung und Verständnis des Modells bediene ich mich einer Analogie, denn "... alles was wir wissen, wissen wir nur über Analogie- und Metaphernbildung: Wir erkennen nur auf der grundlage von bereits Erkanntem. Etwas ähnelt dem anderen Etwas...." (Weizenbaum 2000).

 

Das Selbstkonzept kann als ein Haus gedacht werden, das zunächst mit seinen Räumen aufgerichtet werden muss, bevor  diese Räume eingerichtet werden können. Das Selbstkonzept hat viele Räume, die den Grunderfahrungen des Menschen entsprechen, nämlich seinen bedürfnissen und ihren Befriedigungen. Die Räume haben Bezeichnungen wie Bindungserfahrung, Aggressionserfahrung, die Erfahrung, richtig zu sein, etc.

 

Manche Räume sind, obgleich sie vorhanden sind (Defizitbedürfnisse sind auch dann vorhanden, wenn sie nicht bewusst erfahren werden), nicht zugänglich, weil sie keinen Namen haben. Sie haben keinen Namen, weil sie bisher nicht betreten wurden. Sie werden nicht betreten, weil sie unbekannt und bedrohlich sind, und weil es keinen Führer gibt, mit dem zusammen man einen solchen Raum explorieren könnte, der Phänomene, begriffe und Zusammenhänge benennt. So bleiben sie unzugänglich, versperrt, obgleich ein dumpfes bewusstsein davon besteht, dass sie existieren, allein schon deshalb, weil andere von ihren Häusern berichten, in denen es solche Räume gibt. Diese unzugänglichen Räume entsprechen den versperrten Symbolisierungen.

 

Andere Räume sind wohlbekannt, aber sie werden nicht alleine bewohnt. Es gibt da geliebte Untermieter, die einen anderen Geschmack haben als man selbst. Ihnen zuliebe erlaubt man, dass solche Räume stillos, dem eigenen Stil widersprechend, verstellt werden. Die Einrichtung entspricht nicht den eigenen Bedürfnissen, aber die Liebe zu den signifikanten anderen ist wichtiger, man verrät seinen eigenen Geschmack, seine wirklichen Bedürfnisse  -  bis zum vorauseilenden Gehorsam, das Zimmer nach dem vermuteten Geschmack des anderen einzurichten, und dann gar zu glauben, es wäre der eigene. Die eigenen bedürfnisse sind zwar weiterhin vorhanden, deren Wahrnehmung wird jedoch dem anderen zuliebe verzerrt.

 

Die Sperrung der Räume habt ihren Ursprung in mangelhafter empathischer Begleitung, die verzerrt möblierten Räume basieren auf einer Wertschätzung durch bindungspersonen, die in entscheidenden Aspekten nicht unbedingt ist, die sie an eigene Werte und bedingungen knüpfen.

 

Diese Analogie erlaubt auch die Vorstellung, dass Wahrnehmungen nicht generell versperrt sind, sondern nur spezifische. Sie gestattet, dass man sich im eigenen Haus fremd fühlt, auch wenn einige zimmer gut bewohnt werden können (Persönlichkeitsstörungen können lange Zeit völlig unauffällig und unsichtbar sein.). Sie erlaubt weiterhin  die Vorstellung, dass ein Haus einige versperrte Zimmer hat, dass aber zusätzlich andere verzerrt, stillos möbliert wurden. (Man kann Läuse und Flöhe haben!)

 

Diese Analogie legt auch nahe, dass bei Versperrung zu vieler Räume die wenigen restlichen stärker behauptet und stilsicher (egoistisch) für sich beansprucht werden (wer zu viele Läuse hat, braucht sich vor Flöhen nicht mehr zu fürchten!), wie umgekehrt Räume nur falsch eingerichtet werden können, die zugänglich sind. Persönlichkeitsstörungen erscheinen häufig stabil, unauffällig, nicht neurotisch.

 

 

Aktualgenese des affekts

 

Der Prozess der Entwicklung des Selbstkonzepts wird anschaulicher, wenn zunächst der Prozess der aktuellen gewahrwerdung, der uns intern leichter zugänglich ist, betrachtet wird. Kasten "Aktualgenese des Affekts" zeigt die Entwicklung von der Veränderung der Bedürfnislage bis zum bewusstsein des eigenen Selbst.


       Aktualgenese des Affekts zum Ich-Bewusstsein

 


1. Wahrnehmung der Veränderung eines internen Zustandes

(organismische Erfahrung): z.B. Bedrohung, Kränkung, Lust

2. Bewertung der Veränderung dieses Zustandes

3. spezifisches Ausdrucksverhalten in Mimik, Gestik, Vokalisation

4. Handlungsbereitschaften z.B.   Suchverhalten bei Hunger

                                                     Fluchtreaktion bei Bedrohung

                                                      Angriff bei Kränkung

                                                      Hinwendung bei Anerkennung

5. Wahrnehmung dieses Geschehens

6. Bewertung dieser Erfahrung: dem Organismus förderlich oder nicht?

7. Verknüpfung dieser Erfahrung, ihrer Bewertung, sowie der Empfindung, selbst beteiligt zu sein

8. Interpretation dieses Geschehens: Symbolisierung, Verbalisierung

    z.B. "Ich habe Angst!“ (Gefühle als kognitive Fassung des Affektes) -

    sofern möglich bei Verknüpfung mit vorhandenen Wahrnehmungsmustern

9. Ausdruck dieses Geschehens zur Einflussnahme auf die soziale Umwelt

10. Erfahren der sozialen Rückmeldungen: Befriedigung - Frustration

11. Erfahren der sozialen Wechselwirkung

12. Selbstexploration: Integration der Erfahrung des Selbst im sozialen Feld

        (Verflechtung mit Gedächtnis = alten Erfahrungen, mit Selbstkonzept)

13. Empfindung, ein integraler Teil des sozialen geschehens zu sein

14. Erfahrung von Kontinuität, Identität und Lebendigkeit

15. Differenzierung durch Verfeinerung der Wahrnehmung (Selbst-Empathie)

        (durch Wiederholungen)

16. Gewahrwerden des Prozesses des Ich-Bewusstseins: Selbstbegleitung

        (narratives Sich-in-den-Schwanz-Beißen: "Ich erzähle mir etwas!") bis

zur erlebten Ganzheit: Konstruktion einer widerspruchsfreien Identität:

        Selbstreflexivität zum Ausbau des Selbstkonzepts.

17. Bewertung der Passung zum Selbstkonzept: förderlich oder bedrohlich?

Die Antwort ist die Grundlage einer neuen Erfahrung:

der Zirkel schließt sich.

 


8:  bei Versperrungen nicht unbedingt!         

        17:  kann bei Bedrohung des Selbstkonzepts zu Verzerrungen führen.


Die beiden Pfeile am Rande bezeichnen die Gefährdungen der Entwicklung. In Zeile 8 wird auf den Umstand hingewiesen, dass bei persönlichkeitsgestörten Menschen nicht jede Symbolisierung möglich ist. Menschen ohne z.B. empathisch begleitete Bindungserfahrungen sind später wenig in der Lage, ihre sozialen Gefühle korrekt zu verstehen.

 

In Zeile 17 ist der Umstand angesprochen, dass Menschen konfligierende Bedürfnisse haben können: orientieren sie sich an eigenen Erfahrungen, oder ist ihnen der Erhalt der Liebe von Bezugspersonen wichtiger, auch wenn diese ihre Wertschätzung an Bedingungen knüpfen. (Das weitere Schicksal wird unten näher betrachtet.)


 

 

Ontogenese des Selbstkonzepts

 

Nach der Betrachtung der Aktualgenese, die erfahrbar zugänglich ist, wird bei der betrachtung der Ontogenese sichtbar, dass es hier kaum Unterschiede gibt. In dem Kasten "Ontogenese" sind die Unterschiede durch fettdruck kenntlich gemacht.

 

Besonders hingewiesen sei wieder auf Punkt 8. Hier entscheidet es sich, ob erfahrungen zu Selbsterfahrungen werden. "Wir nehmen signale wahr. Die müssen verarbeitet werden. Durch Interpretation. Ohne Interpretation von signalen entsteht keine Information, also auch kein wissen", damit auch kein Selbstkonzept. "Nur der Mensch kann information produzieren. Sie sind nicht in der Welt. Das heißt: Die Grenze meines Wissens ist die Grenze meiner Fähigkeit zu interpretieren. Und diese Grenze wiederum ist  -  mit Wittgenstein  -  die Grenze meiner Sprache und damit die Grenze meiner Welt. Die Art und Weise, wie ich signale interpretiere, welche Information ich schöpfe, hängt mit meiner Art Analogien zu bilden zusammen und ist immer das Ergebnis meiner Lebensgeschichte und sozialisation." Das gilt in besonderem Maße für das Selbstkonzept. "Wer nichts von der Außenwelt versteht, kann sie auch nicht interpretieren, vermutlich nicht einmal wahrnehmen." (Weizenbaum 2000).

 

Dieser letzte Satz ist der entscheidende. Werden organismische Erfahrungen nicht interpretiert,  -  und sie können nicht ohne anfängliche verbale Begleitung interpretiert werden,  -  werden sie auch nicht angemessen wahrgenommen, das Selbstkonzept bleibt hier lückenhaft. Es geht nicht um einen aktiven Prozess der abwehr, sondern um das grundsätzliche Versperrtsein einer Erfahrung. Obgleich die organismischen bedürfnisse fortbestehen, können sie nicht bewusst wahrgenommen werden.


                 Ontogenese des Selbstkonzepts

                (Unterschiede zur Aktualgenese sind fett markiert)

 


1. Wahrnehmung der Veränderung eines internen Zustandes

(organismische Erfahrung): z.B. Bedrohung, Frustration, Lust

2. Bewertung der Veränderung dieses Zustandes

3. spezifisches Ausdrucksverhalten in Mimik, Gestik, Vokalisation

4. Handlungsbereitschaften, z.B. Suchverhalten bei Hunger etc.

5. Wahrnehmung dieses Geschehens

6. Bewertung dieser Erfahrung: dem Organismus förderlich oder nicht?

7. Verknüpfung dieser Erfahrung, ihrer Bewertung, sowie der Rückmeldung     (Empfindung), selbst beteiligt zu sein: Entwicklung des "Körperselbst"

8. Anerkennung (statt Interpretation) dieses Geschehens durch 

Bindungspersonen: Symbolisierung, Verbalisierung, z.B. "Du hast (statt: Ich habe) Angst!“ (Gefühle als kognitive Fassung des Affektes).

Ohne diese Anerkennung werden aus affekten keine gefühle! (sofern

möglich bei Verknüpfung mit vorhandenen Wahrnehmungsmustern)

9. Ausdruck dieses Geschehens zur Einflussnahme auf die soziale Umwelt

10. Erfahren der sozialen Rückmeldungen: Befriedigung - Frustration

11. Erfahren der sozialen Wechselwirkung

12. Selbstexploration: Integration der Erfahrung des Selbst im sozialen Feld

        (Verflechtung mit Gedächtnis = alten Erfahrungen, mit Selbstkonzept)

13. Empfindung, ein integraler Teil des sozialen geschehens zu sein

14. Erfahrung von Kontinuität, Identität und Lebendigkeit

        als System und seiner Repräsentation (Selbstkonzept)

15. Differenzierung des Selbstkonzepts durch Verfeinerung

(Wiederholungen) der Wahrnehmung (Selbst-Empathie)

16. Gewahrwerden des Prozesses des Ich-Bewusstseins: Selbst-Begleitung

        (narratives Sich-in-den-Schwanz-Beißen: "Ich erzähle mir etwas!") bis

zur erlebten Ganzheit: Konstruktion einer widerspruchsfreien Identität:

        Selbstreflexivität zum Aufbau (nicht mehr Ausbau) des Selbstkonzepts.

17. Bewertung der Passung zum Selbstkonzept: förderlich oder bedrohlich?

Die Antwort ist die Grundlage einer neuen Erfahrung:

der Zirkel schließt sich.

 


           8:   ohne diese empathische Begleitung bleiben Erfahrungen versperrt.

17:  kann bei Bedrohung des Selbstkonzepts zu Verzerrungen führen.


Die Entfaltung des Selbstkonzepts: Aufbau und Ausbau

 

Der wesentliche Unterschied zwischen der Ontogenese und der Aktualgenese besteht darin, dass die Aktualgenese auf einer Selbstempathie beruht, die nur möglich ist, wenn in der Ontogenese eine Empathie durch eine Bindungsperson dem Individuum geholfen hat, sich selbst zu verstehen. Was damals beim Aufbau des Selbstkonzepts von außen nötig war, ist jetzt durch das Individuum selbst möglich. (aber eben nur immer dann, wenn in der Vergangenheit das sich entwickelnde Selbst akkurat empathisch begleitet wurde). Die entscheidenden Unterschiede zeigt der Kasten "Entfaltung des Selbstkonzepts".

 

 


Entfaltung des Selbstkonzepts

 


       Aufbauphase:                     Ausbauphase:

          Gründung des SK      Erweiterung des SK

 


Entwicklung des SK:     durch Integration         durch Integration

                                        erster Erfahrungen              neuer Erfahrungen

                                        (Selbst-Struktur)         (Selbst-Textur)

 

   durch Anerkennung   durch Befriedigung      durch Befriedigung des

     der Erfahrungen:      primärer Bedürfnisse,  Bedürfnisses nach

  passend und prompt   Anerkennung

                                       

   durch kongruentes      empathische                unbedingt

     Gegenüber:                Bindungspersonen       wertschätzende

                                              Bezugspersonen    

Klientenprozesse                         Offenheit für Erfahrungen,   

     Wachstum, Selbstkongruenz

                                                                   

Schwerpunkt                  ganzheitliches               selbstreflexives

  Selbstkonzept              Selbstkonzept

                                                  Identität             Selbst-Bewusstsein

                                            in der Kontinuität          im Hier und Jetzt


Bemerkenswert ist, dass hier ein Unterschied in der Wirkweise zwischen Empathie und unbedingter Wertschätzung deutlich wird. Diese beiden Merkmale entfalten ihre Kraft besonders zu verschiedenen Zeitpunkten der Entwicklung des Selbstkonzepts. Die Empathie ist zu Beginn der Entwicklung unverzichtbar, nur sie erlaubt überhaupt den Aufbau der eigenen identität. Unbedingte Wertschätzung erlaubt dann später die differenzierung dieser unverwechselbaren persönlichen Identität.

 

Für das Analogie-Haus bedeutet das: Das Kennenlernen der einzelnen Räume verlangt, dass der Begleiter durch das Haus alle Räume richtig benennt und betritt (auch die Tabu-Räume), während es für die Einrichtung der Zimmer notwendig ist, dass der Begleiter den Stil des Individuums unbedingt respektiert. Ein Zimmer muss nach Erfahrungen und Bedürfnissen des Individuums eingerichtet werden, nicht nach denen der Bezugspersonen und Begleiter.

 

Dass auch im Alltag akkurate Einfühlung und unbedingte Wertschätzung beziehungsmerkmale sind, die getrennt realisiert werden können, verdeutlichen folgende Aussagen:

 

Empathie (Perspektivenübernahme) ohne Wertschätzung

"Du bist ein elender Angsthase!" oder "Du Feigling!": Die Angst wird empfunden und kommuniziert, aber zusammen mit abwertung.

"Sei nicht so gierig!": Das Bedürfnis wird gesehen, aber entwertet.

"Ich sehe, was du brauchst, und ich gebe es nicht!": Einer solchen Folter ist Prometheus ausgeliefert. Die Infamie besteht eben im Umstand, dass Bedürfniswahrnehmung und Wertschätzung auseinander klaffen.

Es gibt eine korrekte Wahrnehmung von bedürfnissen (wenn auch nicht der entscheidenden), deren Wahrnehmung kommuniziert und auch verstanden wird, die aber mit einem sich entziehen oder entwerten gekoppelt ist.

 

Wertschätzung (wenigstens vordergründig) ohne Empathie

"Mein Lieber, hier sind hundert Mark, amüsiere dich und vergiss es!"

"Du hast keinen Grund, beleidigt zu sein! Komm', ich les' dir was vor!":

"Gutes Kind: Lass mich los, hab' keine Angst und geh' spielen!"

"Dir zuliebe: Ich füttere Dich!"  Auch: "Ich helfe Dir!": Wenn sich das Kind selbständig und ungeschickt versucht, wird ihm zwar geholfen (es wertgeschätzt), aber seine Autonomiebedürfnisse werden ignoriert.

 

Auch wenn eine Trennung von Empathie und Wertschätzung möglich ist, wird die zerstörerische Wirkung des Fehlens eines fehlenden Merkmals deutlich: sie sind nur im Verbund wachstumsfördernd.

 

 

Entwicklung der inkongruenz

Entsprechend den Prozessen der Entwicklung in der Aufbau- und in der Differenzierungsphase gibt es spezifische Störungsformen.

 

Versagen von Empathie im aufbau des Selbstkonzepts

 

Eine ausbleibende Empathie der Bindungsperson für bestimmte primäre Grundbedürfnisse in früher Kindheit unterbindet die Entwicklung des Selbstkonzepts in diesem Bereich. Es kommt zu Lücken im Selbstkonzept, bestimmte Erfahrungen bleiben bewusstem zugang versperrt. Werden z.B. Bindungsgefühle nicht angesprochen und Bindungsverhalten ignoriert oder gar bestraft, so werden diese Menschen, wenn sie Liebe, Freundschaft, soziale Verbundenheit erleben, nicht verstehen, was mit ihnen passiert. Es bleiben nur dumpfe Ahnungen, dass etwas nicht in Ordnung sei, vielleicht Einsamkeit, die nicht verstanden wird.

 

Bedingte Wertschätzung beim Ausbau des Selbstkonzepts

 

In der Differenzierungsphase, wenn das Selbst schon als solches etabliert ist, wird es sich vor Selbstkonzept-inkompatiblen Erfahrungen schützen wollen, wenn es sich nicht sicher genug fühlt, die diskrepanten Erfahrungen zu integrieren. Unter Bedrohungen wird der Organismus bemüht sein, die bisherige Selbststruktur sicherheitshalber aufrecht zu erhalten. es wird dem Organismus wichtiger, soziale Beziehungen zu pflegen und die Anerkennung von Bezugspersonen zu erhalten, von denen er ja abhängig ist, als eigene Bedürfnisse und Wahrnehmungen zu spüren. Sie werden zurückgestellt und verbogen. Er erfährt die Inkongruenz zwischen inkompatiblen Bedürfnissen, die im optimalen Fall im Selbstkonzept integriert wären, und seinen Bedürfnissen gegenüber seiner sozialen Umwelt, seinen Bezugspersonen. Wichtige eigene Bedürfnisse werden im Bemühen, liebenswert zu erscheinen, verraten. Treibende Kraft ist die Angst vor Liebesverlust und der damit verbundenen beschädigung des Selbstkonzepts. Alle neurotischen Störungen basieren auf dieser Angst vor Liebesverlust und der damit verbundenen Selbstbeschädigung: Neben der Angst vor Liebesverlust ist Scham und Angst vor Scham das dominierende Gefühl. Selbst- und idealbild klaffen auseinander.

 

        Vergleich der Fehlentwicklungen

 

Eine zusammenstellung der typischen Fehlentwicklungen im Vergleich der beiden Phasen zeigt Kasten "Fehlentwicklungen".


Fehlentwicklungen

                                     Aufbauphase                              Ausbauphase

1.     Anerkennung durch selbstkongruente Bezugsperson ist ungenügend,

besonders der Mangel an:

                              einfühlendem Verstehen            unbedingter Wertschätzung

2. organismische Erfahrungen wurden:

                             nicht anerkannt                           falsch (nicht "unbedingt") anerkannt

3. Erfahrungen    weil unverstanden:              weil nicht ins SK passend:

   versperrt: blockiert             verzerrt: gefiltert oder umgedeutet

4. Symbolisierung ist:       fehlend, versperrt                      falsch, verzerrt

5. Integration von bestimmten organismischen Erfahrungen geschieht:

                                     nicht                               falsch

6. Selbstentwicklung  ist behindert durch:

                             Fragmentierungen                   Introjekte

7. Inkongruenz  besteht zwischen:

                             fragmentiertem Selbst          Selbst-Introjekten und

                             und (unsymbolisierten)          (falsch symbolisierten) Erfahrungen

Erfahrungen

8. Spaltung besteht zwischen:

                            fragmentiertem Selbst und           Selbstaktualisierungstendenz

                            organismischer Erfahrung                    (Bedürfnis nach Anerkennung)

                                                                              und Aktualisierungstendenz

                                                                                  (organismischen Bedürfnissen)

                                                                         Selbstentfaltung u. selbsterhaltung

                                                                         Selbstbild und Idealbild

9. Entwicklungsstufen der Selbststruktur, das Selbst:

                            bleibt inkonsistent               ist bereits in sich konsistent, bedrohte

                                                                        Selbstkonsistenz wird geschützt

10. Zeitpunkt der Störung geschieht eher:

                             früh ("Frühe Störung")           reaktiv (nach 2-3 Jahren)

 

11. Offenheit für bestimmte neue Erfahrungen:

                            fehlend (oder unrealistisch)     begrenzt (nämlich nur in Sicherheit)

12. Störung der                    

Wahrnehmung:   bei bestimmten Erfahrungen        bei bestimmten Selbsterfahrungen

 

13. Ergebnis:      Selbst-Inkonsistenz,                 Bedrohte Selbstkonsistenz   

 

14. Folgen:            Persönlichkeitsstörungen              neurotische Störungen,

                              Psychopathien, Psychosen    Anpassungsstörungen

                                  (typisch: Borderline)                (typisch: Hysterie)                                


 

 

Unterschiede: Persönlichkeitsstörungen und neurotische Störungen

 

Zur Herausarbeitung der beiden grundsätzlich zu unterscheidenden Selbststörungen sei zunächst verziehen, dass es sich um eine Schwarzweißmalerei handelt, die allerdings Tradition hat. Die gröbste Unterteilung psychischer Störungen war die Unterscheidung von Neurosen und Psychosen, wobei das Kriterium gewesen war, Neurosen seien einfühlbar und Psychosen nicht. Nachdem diese Ansicht revidiert werden konnte, weil auch psychotische Episoden letzten Endes doch in sich konsequent und verstehbar sind, bleibt doch, dass das Verstehen von Persönlichkeitsstörungen anders sein wird als das Verstehen von neurotischen Störungen. Im übrigen ist diese Dichotomisierung auch in den Achsen 1 und 2 des DSM IV zu finden (Achse 1: klinische Syndrome und Störungen, und Achse 2: Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen. Diese Unterscheidung lässt sich auch im ICD 10 wiederfinden: F4: neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen, und F6: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen). Im folgenden wird nicht explizit unterschieden zwischen frühen Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Borderline-Störungen, Psychopathien, Psychosen einerseits und andererseits zwischen (reaktiven) (Psycho-)Neurosen und Anpassungsstörungen. Prototypen für diese Formenkreise können sein: Faust einerseits und Woody Allen als "Stadtneurotiker" andererseits. Ich wähle diese beiden Figuren, da sie nicht direkt und einseitig als krank bezeichnet werden, vielmehr zeigen, dass auch sie ihren Charme besitzen:

Faust zeichnet sich durch sein Wissen-Wollen aus, das er über Gefühle stellt. Seine Bindungsunfähigkeit (zu Gretchen und auch zu wagner sowie Philemon und Baucis) ist unübersehbar, seine Glückserwartung so fern, dass der Teufel eine Wette drauf gibt. Faust ist unbeirrbar selbstsicher, er geht über Leichen. Ganz anders der selbstunsichere Stadtneurotiker, der Image-Probleme hat und es allen recht machen möchte.

 

Auch andere figuren der Literatur vermitteln anschaulich die beiden Typen menschlicher Fehlhaltungen, z.B. Ellen und Portman als Neurotiker und Tana und Samuel als Persönlichkeitsgestörte in Matthias Zschokke’s Roman „Loses Glück“.


Zum Verhältnis beider Störungsformen

 

Die Gegenüberstellung der beiden Störungsformen auf gleicher Ebene ist nicht intendiert, da es sich nicht um eine eindimensionale dichotomie handelt, sondern um einen fortschreitenden Prozess. Störungen im Ausbau sind abhängig von etwaigen Störungen im aufbau, nicht umgekehrt. Einen Eindruck der asymmetrie vermittelt der Kasten "Fundamentale Merkmale"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Phänomenologie der Störung

 

Die charakteristischen Erscheinungsweisen beider Krankheitsformen zeigt der Kasten "Phänomenologie der Störung". Sie liefern die Basis für das verständnis des Unterschieds zwischen den beiden Störungsformen.

 

 

 

 


Phänomenologie der Störung        

 


                                                                           

                                                                           

                                     

                                                                           

 

                                                                           

                                                                           

 

                                                                           

                                                                           

                                                                           

                                     

 

 

 

 


                                     

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 



Phänomenologie der Störung:   Fortsetzung

 Persönlichkeitsstörung

 Fragen des charakters

Ich weiß nicht, wer ich

    bin.

Was sind denn Gefühle.

 

Ich kann alles zusammen

   schlagen, aber ich bin

   nicht wütend.

Ich möchte wegrennen,

   aber weiß nicht warum.

 

Depersonalisation,

Affekt-Kontrollverlust,

Identitätsverlust,

ich-dystonen  

   Empfindungen,

unsymbolisierten 

   organismischen

   Erfahrungen

 Zerrissenheit,

Selbstverstümmelungen

ich-dyston: "Was mir da passiert, ist mir fremd - das bin nicht wirklich ich!"

"Ich will es richtig machen!"

"will wissen, wie es geht!"

„Ich bin nicht ok.!“

"Du bist auch nicht ok.!"

     ("Aber was ist ok.?")

 

Sarkasmus

 

kognitive 

     Perspektivenübernahme

 

Schmeicheln, Lobhudeln

gering: aber: Nachahmung

    gegen Unsicherheit über

    Identität
 

   neurotische Störung

Fragen des Stils

Wer bin ich  denn, dass

   XY das mit mir macht.

Meine Gefühle stören

   mich.

Ich bin wütend, weil XY

   mich ärgert.

 

Ich möchte wegrennen,

   weil es mir zu viel  wird.

 

Diskrepanz zwischen

   Selbst- und Idealbild,

Selbstverachtung,

Angst vor Liebesverlust, 

   Lächerlichkeit,

   Erniedrigung,

   Gesichtsverlust (Scham),

verzerrt symbolisierten

   organismischen (und

   sozialen) Erfahrungen

ich-synton: "Das sind meine Ängste, die gehören (ob ich will oder nicht) zu mir!"

"Ich will gefallen!"

"Ich will geliebt werden!"

 

"Mich liebt keiner!“

("Was muss ich dafür tun?")

"Ich bin nicht ok., du bist ok.!"

Selbstironie

 

Mitleiden, Burnout

 

 

Dienen, Anpassen

 

überangepasst:

    Mitspielen aus Angst

    vor Liebesverlust.

 
                      

Art der Störung:

 


12. Grundsätze

         

 

13. Typische

      Aussagen

      im direkten

      Vergleich

 

 

 

 

 

 

 

 


14. Spezifische

      Besorgnis vor                 

 

 

 

 

 


15. Ich-Erleben

 

 

 


16. Motivation

 

 


17. Bewertung

 

 


18. Humor-Ersatz

 


19. Empathie-Ersatz

 


20. wertschätzungs-

        ersatz

21. soziale

     Anpassung

 


Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens von Personen mit Persönlichkeitsstörungen

 

Der erste Aufbau des Selbstkonzepts geschieht durch die passende und prompte Befriedigung der primären Bedürfnisse. gesamtorganismische Spannungen wegen unbefriedigter Bedürfnisse mögen sein: Hunger, Durst, fehlende Anerkennung oder Nähe, zu kalt, zu langweilig, zu wenig Sicherheit, Ansprache oder Bewegung, körperliche Schmerzen, Müdigkeit, sozial-emotionale Bedürftigkeit, Einsamkeit, (cf oben: Kasten "Organismische Bedürfnisse"). Wer als Kind z.B. nie gehört hat, dass es geliebt wird, oder wer unberechenbaren Bindungsgefühlen ausgesetzt war (keine stabile Einfühlung erfuhr), weiß mit diesem Gefühl der Verbundenheit nichts anzufangen: Es spürt es, weiß es aber nicht zu deuten. Diese unbestimmte Sehnsucht hat, wenn sie unbefriedigt bleibt, undifferenzierte Folgen: Angst, Aggressivität, Depressivität, Flucht. Einige der Phänomene sollen für ein anschauliches Verständnis ausgebreitet werden.

 

Versperrtes Bindungserleben

 

Die Unfähigkeit, das eigene bindungserleben angemessen zu symbolisieren, ist das fundamentale Defizit von persönlichkeitsstörungen, denn es betrifft die Grundlage einer jeden Entfaltung des Selbstkonzepts und später unmittelbar die Beziehung zwischen Psychotherapeuten und Klienten. Es soll zuerst und ausführlicher behandelt werden.

 

Klientin EZ (frühe Störung) kommt in Therapie, weil sie das Gefühl habe, dass etwas nicht in Ordnung sei. Genaueres kann sie auch nach zwanzig Sitzungen (die sie selbst zahlt) nicht ausdrücken. Eine Bemerkung von mir in diese Richtung machte ihr Angst, sie wäre nicht weiter willkommen, ungenügend, unfähig und eine zu große Zumutung.

 Das meistgeliebte Wesen sei ihr Hund. Der wird verwöhnt und folgt doch aufs Wort. Eines abends, als er - in Sichtweite stehend - gerufen wird, kommt er nicht. Er schaut kurz, dreht sich um und geht ins Haus. Die Klientin fühlt sich gelähmt, „wie unter einer Glasglocke“. Sie spürt körperlich, dass ihr etwas passiert, aber sie versteht nicht, was es ist. Mühsam nur beginnt sie zu begreifen, dass der Hund ihre Sehnsucht nach Verbundenheit verkörpert und dass es eine Katastrophe bedeutet, wenn diese Verbundenheit aus unerklärlichen Gründen gefährdet ist.

Sie spürt den Wunsch zu weinen, kann es höchstens alleine mit Musik. Ihre Sehnsucht, in Verbundenheit mit einem Menschen zu weinen, wird langsam sichtbar. Sie war bisher für alle aus der engeren und weiteren Familie Ansprechpartner für deren Probleme, die sie meist bravourös löst. Trotzdem hat sie immer das Gefühl, nicht echt und ehrlich zu sein und benötigt später so viel Ruhe und Allein-Sein-Wollen, dass es sie selbst verwundert.

Die Gründe liegen im Elternhaus, das elitär, aber als gastfeindlich geschildert wird. Die fünf Geschwister dürfen ihre Freunde nicht ins Haus nehmen. Die Mutter isoliert ihre Kinder, steht aber selbst nicht zur Verfügung, sie entzieht sich emotional. Der Vater ist gefühlvoller, aber schwach. Er entzieht sich durch körperliche Abwesenheit. Bedürfnisse nach Nähe und Verständnis werden von Beginn an frustriert. Die weitgehend mangelnde Anerkennung der kindlichen Bedürfnisse nach Nähe und Anerkennung lässt diese Kategorie menschlichen Seins verkümmern. Das Selbstkonzept entwickelt keine Kategorien von Bedürftigkeit und sozialer Bezogenheit. Konsequent wird auf Kinder verzichtet, ein Kinderwunsch nicht reflektiert. Die erste Ehe ist gescheitert (ist kein Thema in der Therapie), die zweite wird eher beiläufig gepflegt (auch kein thema). Erfahrungen ihrer Bedürfnisse sind versperrt, ohne dass Rationalisierungen nötig werden. Die Selbstinkongruenz zeigt sich undifferenziert in einer Unzufriedenheit zu leben und starken Spannungen: Nachts wird eine Zahnspange zur Schonung der Zähne getragen, ihr Atem ist gespannt (hoch, flach, stockend) und der Sessel kann nicht locker besetzt werden. Sie lächelt strahlend über die meiste Zeit und erlebt dies selbst als einschmeichelnd und falsch. Es ist gelernt und hilft zu überleben.

Ein weiteres Beispiel für versperrte Erfahrung von Verbundenheit: So brachte sie einmal den Spruch in die Sitzung „Lass dich ruhig fallen, denn du fällst in die offene Hand und in die zärtlichen arme deiner dich liebenden Eltern“. Im Wissen, dass ihre Eltern sie vernachlässigt hatten, glaubte ich, sie meinte es zynisch, aber sie sagte, der Spruch habe sie "interessiert". Meine Intervention „Er trifft deine Sehnsucht“ traf nicht den erlebten inneren Bezugsrahmen: „Nein, das hat mit mir nichts zu tun!“.

 

Klientin FG (frühe Störung): Nach 20 Jahren Psychotherapie berichtet sie, dass sie früher nicht gewusst habe, dass sie Menschen braucht. "Ich habe niemanden gebraucht!". Damals hätten Worte wie Bedürfnis, Brauchen, Liebe etc. keine Bedeutung gehabt, Liebe eigentlich immer noch nicht, obgleich sie Personen in ihrer Umgebung hat, die sie braucht, und zwar als Pappi und Mammi. Sie brauche keine Psychotherapie, sie brauche etwas Grundlegenderes, Menschen die sich wirklich um sie kümmerten, eben Eltern (sie ist 38 Jahre alt).

 

Klientin GS (Borderline-Persönlichkeit): "Ich will kein Verständnis, ich will echte Hilfe! Hör' auf nur zu reden, hilf mir!"

 

Albert Einstein (Persönlichkeitsstörung) über sich selbst: „In Gleichgültigkeit verwandelte Hypersensibilität. In Jugend innerlich gehemmt und weltfremd. Glasscheibe zwischen Subjekt und anderen Menschen. Unmotiviertes Misstrauen. Papierne Ersatzwelt. Asketische Anwandlungen.“

Darüber hinaus ist bekannt, dass Einstein sozial unsensibel war, im Ernstfall unbelastet durch Gefühle intensiv, andauernd und höchst abstrakt denken konnte, eine Tochter verleugnete, Frauen verachtete, im Alter störrisch wurde und viel aneckte.

 

Klientin FQ (Schizophrenie) schrieb: "Beziehung, ach du großer gott, wusste gar nicht was das ist. Mich beziehen können ist das Geschenk, was mir R. (ihre Psychotherapeutin) überreichte  -  schlaflose Nächte finden ein ende."

 

Klientin SV (Borderline-Persönlichkeit): als Tochter aus einem Haus religiöser Eiferer verfolgt sie über jahre einmal monatlich den suspendierten Psychotherapeuten ihrer Kinder bis zu seinem eine Autostunde entfernten Haus, um unerkannt im Wagen zu warten, ohne ihn zu sehen. Sie liebe ihn nicht, sondern tue es der Kinder wegen.

 

Spielerin aus dem Frauengefängnis: Von 2 bis 6 im Heim, zweimal vermittelt und wieder zurück gegeben. Mit 6 das 3. Mal vermittelt, dieses mal mit "Erfolg": sie habe sich angepasst: "Wenn ich unauffällig bin, muss ich nicht zurück ins Heim!". Folge: bemüht angepasst, gehorsam, lieb, tut den neuen Eltern Gutes an, nicht aus Liebe oder Angst vor Liebesverlust, sondern aus Berechnung, nicht mehr ins Heim zu müssen.

 

Eine kontaktaufnahme für Persönlichkeitsgestörte ist weniger spontan, eher bemüht und berechnend. Der Charme ist künstlich, es kommt zum Schmeicheln (Johann Wolfgang von Goethe: Wer keine Liebe fühlt, muss schmeicheln lernen, sonst kommt er nicht aus.).

 

Anpassung über Vernunft

 

Persönlichkeitsgestörte Personen möchten sich anpassen, nicht um geliebt zu werden, sondern um richtig zu sein, um eine Identität zu erwerben. Diese Identität wird über den intellekt erarbeitet, wird immer wieder in Frage gestellt. Modelle dienen der Selbstfindung, anderer Leute Persönlichkeit werden ausprobiert, verworfen oder adaptiert. Diese art der bewussten Selbstfindung ist anstrengend und unsicher. Spaltungen (vielleicht multiple Persönlichkeiten?) werden möglich.

Klient ZU (Borderline-Persönlichkeit): "Ich habe das jetzt gelernt. Ich weiß jetzt, was ich sagen muss, damit man mir zuhört. Es funktioniert!"

 

Misstrauen

 

Die Erfahrung, dass Bedürfnisse nicht oder falsch befriedigt werden, macht misstrauisch, wenn Angebote erfahren werden, die ersehnt sind, aber bisher mit Enttäuschungen verbunden waren. Die Erfahrung ist: "Ich kriege nicht wirklich das, was ich brauche, und auch nicht das, was der andere zu geben vorgibt". Aus diesem Misstrauen erwächst das Bedürfnis nach einer Kontrolle von Nähe und allen sozialen Kontakten. Persönlichkeitsgestörte brauchen diese Kontrolle über andere aus Angst davor, selbst manipuliert zu werden.

 

Zerrissenheit

 

Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit sind Folgen einer Fragmentierung, die auch in anderen Symptomen zum Tragen kommen. Häufig  sind folgende Modi des Fühlens und Handelns zu beobachten, die im Wechsel auftreten und miteinander als unvereinbar empfunden werden:

    Allmachtsgefühle oder Angst, verloren zu gehen,

    Einsamkeit oder Angst, vereinnahmt und manipuliert zu werden,

    Hass oder Sehnsucht,

    Harmoniebedürfnis oder Launenhaftigkeit,

    Idealisierung oder Entwertung,

    Dankbarkeit oder Verachtung,

    Wünsche nach Verbundenheit oder Autarkie.

Diese zerrissenheit beeinträchtigt Gelassenheit und Identitätsgefühl.

 

Klient VL (Borderline-Persönlichkeit): "Wann immer ich mich eingelassen habe, bin ich bestraft worden. Sehnsucht und Angst wechseln sich ab, beides gesteigert bis zur Maßlosigkeit. Ich weiß gar nicht, wo ich da bleibe!"

 

Klientin EZ (frühe Störung) wehrt sich gegen Gefühle des Beziehungserlebens und ist zerrissen zwischen der Angst vor und der Sehnsucht nach Verbundenheit. Ihrer andauernden Spannung versucht der Therapeut auch nonverbal direkt zu begegnen: „Sie können sich fallen lassen – sie können die Äugen schließen – Ich passe auf sie auf!“ Bei der Vorstellung, da könnte jemand sein, der auf sie aufpasst, bricht die Klientin in Tränen aus. Nach wenigen Sekunden fährt sie auf und wehrt sich: „Sie mit Ihrer verdammten sanften Art!“

 

Persönlichkeitsgestörte Klienten werden zerrissen zwischen dem Misstrauen vor Beziehungen und ihrer Beziehungssehnsucht. Das zeigt sich auch in ihrem vergleichsweise häufigen Therapeutenwechsel. Klientin EZ (frühe Störung) nach dem dritten Therapeutenwechsel: „Ich gebe mich jetzt frei zur Adoption.“

 

Versperrte Schmerzerfahrungen

 

Klient ZU (Borderline-Persönlichkeit): Mutter habe ihn gedemütigt, Schwester vorgezogen, ihn vernachlässigt. Er hat Wut auf Schwester, die die Mutter "gekauft" habe. "Gegen meine Mutter spüre ich nur Verachtung", Wut ist möglich, Trauer nicht. Trauer und Schmerz sind im Gesicht ablesbar. Darauf angesprochen, lacht er: „Spür' ich nicht!“.

 

Klientin KN (Borderline-Persönlichkeit): Ihr laufen bei einem Thema über eine Kränkung die Tränen. Auf ihre Schmerzen angesprochen, fragt sie unwillig: „Wie kommst Du denn darauf!“

 

Klient WM (Borderline-Persönlichkeit): "Wut und Angst zu zeigen, war nicht möglich, das auszudrücken wurde bestraft. Nur Eifersucht blieb als schlimmes Gefühl. Ich war auf meine Schwester eifersüchtig (die nachgeborene war - anders als er - willkommen). Meine eifersucht wurde wahrgenommen! Die habe ich in mich reingefressen. Wut und Schmerz kannte ich nicht."

 

Klientin EZ (frühe Störung) weint das erste Mal in der Geborgenheit einer Beziehung (sonst galt immer: Ich zeig dir nichts!) und äußert erstaunt: „Tränen tun ja gar nicht weh!“

 

Unverstandene Wut

 

Klientin BV (Borderline-Persönlichkeit): will alles zusammenschlagen und verlässt vorsichtshalber die Psychotherapiegruppe. Einen Anlass kann sie sehen, es sei ein Vorwurf, den eine zweite Klientin einer dritten machte. Auf die Intervention „Irgendwie bedroht dich das!“ antwortet sie: „Nein, das hat doch mit mir nichts zu tun!“

In anderen zusammenhängen:

"Wenn ich höflich bin, platze ich, wenn ich ehrlich bin, platzen die anderen!"

"Wut?  -  Nein nein, ich bin dann nicht wütend, aber ich möchte ihn umbringen!"

 

ZU (Borderline-Persönlichkeit): „Ich hasse diese Frau (Freundin der Mutter)!“ (grinst)  - Th: „und deine Mutter!“  -  „Meine Mutter ist schlimmer.   -  Da ist auch was, aber ich spüre es nicht.“

 

HL (Borderline-Persönlichkeit): Klient spürt so etwas wie Wut, ein Geladensein, das er aber nicht versteht. „Wenn ich mich so fühle, so geladen, und in ein Lokal komme, wünsche ich mir nur, dass mir einer blöd kommt. Den mache ich dann fertig!“

 

Angst vor Gefühlen

 

Die unsymbolisierten Wahrnehmungen organismischer Bedürfnisse bleiben unverstanden, damit bedrohlich. Werden die Gefühle zu stark, drohen sie die Klienten zu überrollen, machen Angst, und brechen schließlich doch häufig durch. Ein langes Bemühen, sie zu beherrschen und die damit verbundene und verstärkte Angst, es nicht noch länger schaffen zu können, verstärkt die Brisanz. Schließlich brechen sie um so heftiger und ungesteuert, unsteuerbar durch. (Dies dürfte auch der grund dafür sein, warum Borderline-Persönlichkeiten in Gefängnissen überproportional häufig vertreten sind.)

 

Klient WM (Borderline-Persönlichkeit): "Haben sie nicht auch Angst vor mir, dass ich ausraste, dass ich Sie angreife?"

 

Versperrte beschämung und Schuldgefühle

 

Klienten spüren, dass sie nicht ok. sind, dass sie bei anderen nicht landen können. Die ursachen suchen sie bei sich selbst, sie spüren, dass sie nicht genügen und neigen zu schuldgefühlen.

 

Klientin FQ (Schizophrenie): "Ich schäme mich  heute darüber, dass ich mich damals nicht geschämt habe, mich nicht schuldig gefühlt habe, dass ich, ohne Angst, einfach so drauf los ... . Da muss man sich doch schämen!“

 

Angst/Panik

 

Klienten mit Persönlichkeitsstörungen erleben die Welt und sich selbst als unberechenbar: sie können ihre Bedürfnisse nicht zielgerichtet äußern. Sie erwarten Bestrafungen, besonders dann, wenn zunächst Bedürfnisse befriedigt wurden. Sie entwickeln Ängste, besonders vor:

  -  dem Verlust der eigenen Identität,

  -  dem  Verlust der nur mühsam erkämpften Autonomie,

  -  einer emotionalen Abhängigkeit,

  -  dem unkontrollierten Ausdruck von Wut,

  -  der Enttäuschung, doch wieder verlassen zu werden, weil sie "falsch" sind.

Gewöhnlich bleiben die Quellen der Ängste verborgen. Die Ängste können nicht symbolisiert werden und es besteht die Gefahr, dass sie die Klienten überschwemmen. So geraten sie in Panik und wissen nicht, warum, oder aber sie empfinden die versperrte Angst nicht wie Klient ZU (Borderline-Persönlichkeit): „Mein Grinsen ist mein Schutz!“  -  Th. „In Wahrheit hast Du Angst!“  -  „Ja, aber ich spüre sie nicht!“

 

Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme

 

Viele Klienten berichten von Selbstverletzungen, z.B. Haare ausreißen, die Haut ritzen. Sie ermöglichen es ihnen, über den Schmerz das Gefühl zu erlangen zu existieren. Selbstverstümmelung ist ein Mittel der erzwungenen Selbstwahrnehmung. So werden sie weniger als schmerzend, eher als beruhigend empfunden. Ähnliche Ursachen und Wirkungen haben Sich-Wiegen und Jaktationen.

 

Das "Busenwunder" Ferrari: "Ich will, dass man mich ansieht, sonst glaube ich nicht, dass es mich gibt."

 

Klientin FQ (Schizophrenie) über das Erleben von Fremdsteuerung nach 30 Jahren Psychotherapie: „Ich habe jetzt eine Seele und die kann mir keiner nehmen.“ Bisher wurde die eigene Identität nicht zuverlässig gespürt: „Ich lief meiner Seele hinterher.“

Erst nach 35 Jahren mit der diagnose Schizophrenie habe sie das erste Mal gefroren, richtig gespürt, dass sie friert: "Ich kenne das gar nicht, ich friere richtig!". (Früher sei das Wetter unangenehm gewesen und sie habe sich entsprechend angezogen.)

 

 

Die Reichweite der Skala zur Prozesserfahrung

 

Es ist (auf Grund der entwicklungspsychologischen Einordnung des Störungsbildes) offensichtlich, dass die Prozess-Skala von Rogers  (1961) keine angemessene Beschreibung des Zustandes von persönlichkeitsgestörten Klienten erlaubt. Die Skala besteht aus einer abgestuften Beschreibung abwehrenden Verhaltens, während das Verhalten bei Persönlichkeitsstörungen nur wenig durch übliche Formen von Abwehrverhalten charakterisierbar ist. Personen mit Persönlichkeitsstörungen benötigen weniger eine neurotische Abwehr, da ihr Selbstkonzept in seiner Fragmentierung nicht unmittelbar als solches bedroht ist. Sie kommen nicht in die zwickmühle, anderen zuliebe sich zu verraten. Ihre autarkie schützt sie vor schmerzhaften Diskrepanzen zwischen Selbst- und Idealbild. Ihr Verhalten ist durch sog. frühe Formen der Abwehr gekennzeichnet (z.B. Depersonalisation) und weitgehend vernunftgesteuert ("automatenhaft"), wenig ängstlich oder aber durch Panik blockiert, die sie als einen affekt erleben, der nicht verstanden werden kann. Daher ist eine Einordnung von Persönlichkeitsstörungen in die Prozess-Skala nur möglich, wenn man sie nach unten erweitert und eine Vor-Phase einführt (cf Heinerth 1997).

 

Vergleicht man das Erleben von Persönlichkeitsgestörten mit dem Erleben, das die erste Phase des Erlebens-Prozesses sensu Rogers kennzeichnet, so lässt sich feststellen, dass die meisten Formen des Erlebens, die eine Persönlichkeitsstörung charakterisieren, nicht vorkommen bzw. eine andere Bedeutung haben. Beispielsweise wird das Erleben von Klienten in der Ersten Phase charakterisiert durch: "Gefühle und persönliche Sinngebungen werden nicht anerkannt, man gibt nicht zu, sie zu haben" (Rogers 1973, S. 137). Persönlichkeitsgestörte gäben beides zu, wenn sie sie hätten, meist mangelt es ihnen jedoch daran. Oder: "Persönliche Konstrukte sind extrem starr." Starr steht hier im Gegensatz zu fließend. Persönlichkeitsgestörte erleben ihre Konstrukte als brüchig oder wechselnd, also noch nicht einmal als starr, was ja schon eine gewisse Sicherheit böte. Oder: "Es gibt viele Sperren gegen innere Kommunikation." Manche Klienten erleben ihre innere Kommunikation als ich-dyston, z.B. als "innere Instanzen" der Bewertung, die sich gegenseitig belehren, anweisen, bekämpfen und blockieren ("Das darfst Du nicht!", "Mach' das endlich!").

 

Fazit: Das Prozess-Kontinuum sensu Rogers passt trefflich auf Menschen mit einem in sich konsistenten  -  wenn auch nicht richtigen  -  Selbstkonzept, nicht auf Persönlichkeitsstörungen, die durch ein fragmentiertes Selbstkonzept gekennzeichnet sind.

 

 

Zum Wachstum von persönlichkeitsgestörten Klienten

 

Wenn im Laufe einer Psychotherapie eines persönlichkeitsgestörten Menschen das Selbstkonzept eine ganzheitliche gestalt gewinnt, ist häufig zu beobachten, dass dieses Selbstkonzept noch unsicher ist und geschützt werden muss  -  wie es bei Neurotikern der Fall ist. Typisch ist das Phänomen, dass zu diesem zeitpunkt der zunehmenden integrität des Selbstkonzepts Beschämung auftritt.

 

Häufig berichten Klienten, dass sie jetzt in einen zustand geraten, der viel schmerzhafter ist als der vorherige  -  wenn auch im Wissen, dass es keinen Weg zurück gibt. Andererseits wird auch gespürt, dass der neue Weg, Kränkungen wahrzunehmen und auszudrücken (zu beweinen), angemessen ist. Zwei Beispiele:

 

Klientin FQ (Schizophrenie): "Statt zu erstarren kann ich jetzt weinen. Da ist ein Unterschied! das depressive absacken ist was anderes als ein Schmerz. Schmerz ist ’was unheimlich Frisches!“. Sie lacht.

 

Klientin KN (Borderline-Persönlichkeit): „Ja  -  wie's mir geht  -  ich weiß nicht  -  ich habe geweint  -  das war gut. Ja, ich kann jetzt weinen, das tut richtig gut!"

 

Die verbale empathische Begleitung durch den Psychotherapeuten lässt jetzt organismische Bedürfnisse zu Selbsterfahrungen werden, die das Selbstkonzept konstituieren.

 

 

Neurotische Verzerrung

 

Nur wenige Beispiele sollen als Kontrast den Unterschied von neurotischen Symbolisierungs-Verzerrungen zu Persönlichkeitsstörungen mit versperrten Symbolisierungen charakterisieren:

 

Woody Allen: "Ich würde nie einem Club beitreten, der Menschen wie mich aufnehmen würde!"

 

Klientin GG (Anpassungsstörung): Mit der Selbstüberzeugung „Nur die Würde bewahren!“ kann sie den Tod ihres Mannes nicht beweinen, so wie sie sich immer schon das Weinen nicht erlauben durfte. Nach einem halben Jahr der versagten Trauer bricht es nachts für Stunden aus ihr heraus: Sie sieht dies im Nachhinein als einen Segen, die Trauerarbeit beginnt.

 

MJ (Depression): "Ich habe mich als Clown verstellen müssen, um Anerkennung zu bekommen. Ich liebe Menschen - sofern die mich bewundern. Meine Frau hat mich bewundert, ich habe sie geliebt. Da sie aufgehört hat, mich zu bewundern, läuft meine Liebe ins Leere." Um wieder bewundert zu werden, bleibt er bei seiner Liebe, verfolgt sie mit seiner Liebe und nimmt in Kauf, entwürdigt und verletzt zu werden. Die Folge ist ein gekränktes Selbstwertgefühl und eine verfestigte Vorwurfshaltung mit Depressionen, Gefühlen des Versagens: "Ich bin nicht liebenswert!"

 

Klientin QV (wie alle Neurotiker): "Ich kann nicht Nein sagen!  -  Das kann man doch nicht machen!  -  was sollen die von mir denken!".

 

Die diagnostisch wichtige Differenz zwischen Selbstbild und idealbild ist nur für Neurotiker relevant. Das Selbstideal im falle von Selbst-Lücken ist unklar. Der Wunsch nach etwas anderem als man ist, entspringt weniger dem Wunsch, für sich oder andere liebenswert zu sein, als dem Wunsch, sich zu orientieren. Die Selbstkonzept-differenz wird nicht als Inkongruenz erlebt, sondern eher als ein kognitiver Konflikt, der einer Entscheidung bedarf.

 

 

Änderung des Selbstkonzepts

 

Die Kenntnis der unterschiedlichen Phänomenologie der Störungsbilder erleichtert ihr verständnis und den umgang mit ihnen. Das spezifische verstehen erlaubt den Blick auf die jeweilige Besonderheit. Der Kasten "Änderung des Selbstkonzepts" gibt einen Überblick


Änderung des Selbstkonzepts: Aktualgenese (hic et nunc)

 


   Bei Störungen in der          

     Aufbauphase                          Ausbauphase

 

Selbstentwicklung bei         versperrte Symbolisierung            verzerrter Symbolisierung

       

Anerkennung einer                durch Empathie                         durch unbedingte

             Erfahrung                              (zuerst extern)                         Wertschätzung

 

Anregung der

      Selbstaktualisierung     durch (neue) Selbsterfahrung         durch Selbstexploration

 

wichtigste Agenten:                  Bezugsperson                             Individuum selbst, Eltern,

                                       Psychotherapeut                     Partner, Freunde, Gott

 

wichtigstes Agens:              Beziehung und Regression          Selbstanerkennung:

                                    (reparenting)                                 Selbstempathie

        und Selbstachtung

 

primäre Bedürfnisse         Anerkennung der Person und            nur Anerkennung:

                                     Befriedigung von                          Befriedigung des

                                     Bedürfnissen durch                              Bedürfnisses nach

Andere                                          Anerkennung

 

Wachstum                        Organismus erkennt günstige     Organismus blüht auf in

                                    Bedingungen nicht                        günstiger Umgebung                                          

Bedürfnis nach

      Anerkennung        unbedingte Befriedigung             unbedingte Befriedigung 

                                         prompt und passend        der Beziehung angemessen

                            

     bei Erfolg Wachstum:             durch Aufbau                       durch   Umstrukturierung

                                                des Selbstkonzepts                           des Selbstkonzepts

 

 


 Selbstkongruenz, Offenheit für neue Erfahrungen

 

    

     bei Scheitern:                                Stagnation, bedingte Selbstanerkennung

                                               Inkongruenz von Selbst und Erfahrung

           Ergebnis:                                              Stabilisierung der Abwehr

                                                            Offenheit für neue Erfahrungen nimmt ab

 

           Perspektive:                                               Verfestigung der

 


                                                 Persönlichkeitsstörung        neurotischen Störung

 


Die Möglichkeiten einer therapeutischen Einflussnahme zeigt der folgende Kasten:

 

Art der Störung:

 

1. Charakteristikum

 

2. An nötiger

    Anerkennung fehlt

 

3. Wirkung

     durch Therapeuten-

     verhalten

    (Beziehungsangebot)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

      durch  

      Selbstexploration

         (Beziehung zu

          sich selbst)

 

   durch Bedürfnis-

befriedigung

 

Persönlichkeitsstörung

 

Selbstkonzept-Lücken

 

        Genauigkeit

        der Empathie

 

Empathie besonders im organismischen Bereich und überall dort, wo das SK keine Lücken hat. Lücken sachte „von den Rändern“ je nach Mög-lichkeit des Gewahrwer-dens füllen (direkte Empathie, auch wenn sie offensichtlich richtig ist, erscheint sonst als falsche Interpretation).

 

Wertschätzung sehr vorsichtig (Misstrauen! Angst vor Abhängigkeit).

 

 

Das Selbst als unbekanntes Wesen.

 

 

Primäre bedürfnisse

   via Regression:

   (z.B. Körperkontakt)

  

 

Neurotische Störung

 

Selbstkonzept-Fehler

 

Unbedingtheit

der Wertschätzung

 

Wertschätzung,

unbedingt für alle Gefühle,

Wünsche, Motive, Bedürfnisse

(nicht für alles Handeln!).

 

 

 

 

 

 

 

 

Empathie besonders für Ängste (Inkongruenzen)

 

 

 

 

Das Selbst als unverstandenes Wesen.

 

 

nur Bedürfnis nach 

   Anerkennung und Nähe

   (als einziges Bedürfnis, das

   man sich nicht selbst

   befriedigen kann).

 

 
Heilen durch Beziehung


 

Für die Therapie bedeutet das, dass je nach Störung andere Aspekte der therapeutischen Haltung wirksam werden. Bei der Persönlichkeitsstörung ist es die Empathie, besonders im organismischen Bereich, während es für die neurotische Störung die unbedingte Wertschätzung wird. Die Wertschätzung bei einer Persönlichkeitsstörung ist zunächst weniger wichtig, weil sie vom klienten auch gar nicht akzeptiert werden kann. Ohne empathische Fähigkeiten bleibt nur Misstrauen. Kann dann doch wahrgenommen werden, dass die Wertschätzung wichtig ist, besteht die Gefahr einer aufkeimenden Angst, vereinnahmt und abhängig zu werden. Andererseits ist die Empathie für neurotische Störungen weniger wesentlich als die unbedingte Wertschätzung, weil das Selbstkonzept an sich bereits alle Aspekte umfasst. Das Individuum ist durchaus in der Lage, seine Ängste wahrzunehmen. Es ist allerdings nur in der Lage, die Abwehr tatsächlich abzubauen, wenn Wertschätzung verspürt wird, die unbedingt ist. Für beide Störungsformen gilt, dass die Selbstexploration das Agens ist, mit der das lädierte Selbstkonzept konstruiert und repariert wird.

 

Wesentlich für die Therapie ist dann auch zu wissen, dass die Befriedigung von Bedürfnissen je nach Störungsart unterschiedlich zu handhaben ist. Die therapeutische Situation geht im Klientenzentrierten Modell zunächst nur davon aus, dass als einziges das Bedürfnis nach Anerkennung befriedigt wird. Es ist das entscheidende Grundbedürfnis als voraussetzung für die Entwicklung des Selbstkonzepts. Erst nach genügender Anerkennung durch empathische Andere ist das Individuum in der Lage, sich selbst anzuerkennen; und erst diese Selbstachtung ermöglicht eine weitere Selbstentfaltung. Diese Befriedigung des bedürfnisses nach Anerkennung bildet die Grundlage der Selbstentfaltung nicht nur in der Kindheit, sondern auch in der Psychotherapie. Dieses Konzept ist für Neurotiker das angemessene, es gilt jedoch nicht unbedingt für Persönlichkeitsstörungen. Da hier Aspekte des Selbstkonzepts nicht entwickelt wurden (z.B. Bindungsgefühle und ihre Bewertungen) ist es nötig, dass hier die Bedürfnisse nicht nur auf verbaler Ebene befriedigt werden, denn da fehlt das Verständnis, sondern direkt auf organismischer. Hier besteht eine Indikation für Körperkontakt, der als unmittelbarer Sicherheitsauslöser organismisch funktioniert. Diese Bedürfnisbefriedigung ermöglicht, wie in der Erziehung von Kleinkindern, eine unmittelbare Bindungserfahrung (s.u.). Die Selbstexploration dieser Befriedigung von Bedürfnissen, hier der Sehnsucht nach Kontakt, erlaubt dann den Aufbau des Selbstkonzepts.

 

Für das Analogiehaus bedeutet das, dass der Therapeut den Klienten unmittelbar, sinnlich erfahrbar in die Räume führen muss, die für ihn bisher versperrt gewesen sind, während es für die Therapie des Neurotikers reicht, im Raum zu sein und über die Stilfragen zu reden: was passt in diesem Raum und was ist nicht wirklich Eigenes.

 

 

Differenzielle Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Störungen.

 

Der Kasten „Uniformität und Spezifität von Symptomen“ erläutert die verflechtung von Störung und Gesundheit (Selbsterhaltung und Selbstentfaltung) sowie Inkongruenz und seine Folgen. Dabei wird nicht nur deutlich, dass Persönlichkeitsstörungen und Neurosen unterschiedliche Symptomausprägungen haben, sondern auch, dass durch die Inkongruenz im Organismus Spannungen erzeugt werden, die dann durch eine Verhinderung der organismischen Beantwortung von bedrohung zu gleichen Konsequenzen führen kann. Wenn der durch die bedrohung bedingte Stress nicht durch kämpfen, fliehen, täuschen oder erstarren, so wie es evolutionär vorgesehen ist, abgebaut werden kann, gerät der Organismus in einen Zustand, der zwangsläufig die Symptome, je nach Veranlagung und Interpretation, entstehen lässt (Biermann-ratjen & Swildens 1993, Heinerth 2000). Die Hierarchie der Symptome wird im unteren Teil des Kastens sichtbar: Eine akute Belastungsreaktion kann chronifizieren und damit die unterschiedlichen Symptome hervorrufen. Andererseits wird deutlich, dass bei gleichen Ursachen die unterschiedlichsten klassischen Symptome auftreten können.

 

Diese phänomenologische Unabhängigkeit von Ursache und Symptom rechtfertigt bis zu einem gewissen Grad die uniformität der Intervention im Klientenzentrierten Konzept und legt zugleich nahe, dass für Persönlichkeits- und neurotische störungen besonderes Verständnis und differentielles Intervenieren nötig sind.

 

Schließlich haben in diesem Schema auch psychosomatische Erkrankungen ihren Platz, die ebenfalls ein Resultat des unter Stress geratenen Organismus sind, der sich nicht anders zu helfen weiß.


    

Uniformität und  Spezifität von Symptomen

 

                                 Spaltung der Aktualisierungstendenz:

 


                             Selbsterhaltung                                                    Selbstentfaltung

                                                                                                                    

Inkongruenz zwischen Selbst (wenn "falsch", verzerrt)               Selbstkongruenz

         und gesamtorganismischer

         Erfahrung (wenn versperrt)

                                                                                            

"persönlichkeitsstörungen"

 

latentes, unbefriedigtes     

     Bedürfnis nach Empathie

Suche, Sehnsucht,      

      Unzufriedenheit, Ärger,

      Aggressivität

Angst vor

      Abhängigkeit,

      neuer Frustration,

      unkontrollierten affekten

Misstrauen

Zerrissenheit

Täuschungsbedürfnis

 

      "Neurosen"

 

Diskrepanz zwischen 

      Selbst- und Idealbild

Scham, Schuld, Depression

Mangelhaftes

      Selbstwertgefühl

Selbstmissachtung       

Angst vor      

      Gesichtsverlust

      Liebesverlust

      Erniedrigung

      Entwürdigung

Selbsttäuschung   

 

Selbstöffnung:

 

akkurate  

     Symbolisierung,

emotionales und

     kognitives  

     Gewahrwerden

 

 

 

 

 
 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Kämpfen               Fliehen                Täuschen                 Erstarren

                           Barriere für den Ablauf des genetischen Programms,

       wenn Kämpfen, Fliehen, Täuschen und Erstarren die Bedrohung nicht aufhebt

    oder Selbsterfahrungen bedrohlich bleiben: Affekte nicht verstanden werden oder

                               erfahrungen dem Selbstkonzept widersprechen.

 

Akute Belastungsreaktion (unspezifisch, alle Formen möglich, wechselnd):

                             Ärger                                      Angst                        Betäubung                         Schock

                   Überaktivität                 Rückzug                   Regression                         Depression

Posttraumatische Belastungsreaktion:         

                             Dauerwachsamkeit        Ängstlichkeit            Bewusstseinseinengung     Wertlosigkeit

Unruhe                          Besorgtheit               Selbsttäuschung                 Depression

Klassische Syndrome (spezifisch, ausgewählte Formen wahrscheinlich, stabil):

Zwang                           Angst                        Hysterie                             Depression

                             Aggressivität                 Panik                         Dissoziation                       Selbstzweifel                                    Randale                         Wahn                        Paranoia                             Katatonie.


 

Symptomgestaltung

Die Ähnlichkeit der Phänomene, unter denen Klienten leiden, kann unter dem Gesichtspunkt der Störungsart differenziert gesehen werden. Eine Depression kann "endogen" sein oder reaktiv, auf den ersten Blick sind beide Erscheinungsformen identisch und tragen den gleichen Namen. Eine ausbreitung der Symptome einerseits nach Störungsform und andererseits nach genetisch bedingten Programmen (entsprechend den evolutionären Stress-Reaktionen: Kampf  -  Flucht  -  Erstarrung  -  Täuschung) zeigt folgender Kasten:

Persönlichkeitsstörungen        neurotische Störungen
 
Gewalt                                         Zwang

Gefühllosigkeit, Leere           neurotische Angst

„endogene“ Depression         reaktive Depression

(Gleichgültigkeit)                   (Selbstzweifel)

Narzissmus, Wahn,                     Hysterie

        Dissoziation

 
                                 

Symptom                                                              

Kampf, Kontrolle:                         

Flucht, Angst:                 

Erstarrung,

   Depression:      

Täuschung

Selbsttäuschung:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen

 

Psychotherapie für Personen dieser Störungsart verlangt, verglichen mit der therapie neurotischer Störungen, ein sehr differenziertes verstehen von Phänomenen und Symptomen. Grundlage ist zuerst die Herstellung einer tragfähigen Beziehung, die einerseits unumgänglich, andererseits besonders schwierig zu realisieren ist. Vielleicht ist eine Liste möglicher therapeutischer Angebote hilfreich (Heinerth 1997):

 

Einleitung von Beziehung, Hilfestellungen

Da es bei Persönlichkeitsstörungen nicht nur um Verstehen geht, da der Klient nicht in der Lage ist, dieses Verständnis zu erfahren, muss eine Beziehung langsam etabliert werden. Mögliche erste Maßnahmen sind:

·        Erzählen und Erzählen lassen.

·        Schweigen und Schweigen lassen. 

·        Struktur geben, zunächst für den Ablauf einer Sitzung:

sie muss berechenbar werden, mit Anfang und Ende,

sowie mit Ritualen.

·        Normalität unterstützen: sie gibt Sicherheit.

·        Orientierung geben, wo immer sie verlangt wird.

·        für Transparenz sorgen: Abläufe, die undurchsichtig sind, erklären.

·        Informationen geben, wenn sie offensichtlich fehlen, erbeten sind.

·        Einbeziehen und unterstützung von vorhandenen Ressourcen.

·        Andere Ressourcen einbeziehen:

Gruppenpsychotherapie, Selbsthilfegruppen,

        Beratungsstellen, Sozialarbeit, Volkshochschulkurse.

·        Anwalt sein für Bedürfnisse, Interessen, Wünsche, Sehnsüchte.

Dabei geht es nicht darum, so etwas wie Sozialarbeit zu leisten, vielmehr um die Diskussion von Möglichkeiten und den Ängsten und Erwartungen, diese Chancen zu nutzen.

 

Aufbau von Verbundenheit

Häufig geschieht es, dass Klienten die therapeutische Verantwortlichkeit und Kompetenz, den Sinn der Therapie und die Ehrlichkeit des Therapeuten in Frage stellen. Anfänglich kommt es gewöhnlich zu Krisen in der Beziehung und zu Erwägungen, die Therapie abzubrechen. Hilfreich ist es, dies als Ausdruck des Erlebens des Klienten anzuerkennen und sich der Tatsache bewusst zu sein, dass der Sinn dieser Krisen in ihrer Bearbeitung liegt, dass der Therapeut den Zusammenhang versteht, die besondere Unfähigkeit und die Ängste des Klienten, und ihn spüren lässt, dass er ihn trotz seiner Aggressivität und trotz seines eigenen Ärgers nicht wegschicken wird. So kann vereinbart werden, dass man sich - gleichgültig, wie enttäuschend eine Sitzung gewesen sein mag - im Bewusstsein, dass so eine Beziehung nicht so leicht und leichtfertig zu kündigen ist und dass man sich bei allem Ärger förmlich und höflich, wenn nicht liebevoll, mindestens aber achtungsvoll, zu verabschieden hat. Abschiedsrituale sind da sehr hilfreich.

 

Beziehungsangebot

Bei der Gestaltung des Beziehungsangebotes geht es nicht nur um die Herstellung der Verbundenheit, einer unspezifischen Sicherheit in der Beziehung, sondern auch um den spezifischen Inhalt der Beziehung. Es ist nötig, eine Begegnung zu riskieren, einen wirklichen Austausch von "Selbst zu Selbst", von "Person zu Person", vorzunehmen. So gehört zum wirklichen Beziehungsangebot des Therapeuten (innerhalb der Besonderheit von Raum und Zeit) auch ein wenig die Auskunft über sein eigenes Leben. Die Teilnahme von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen an meinem Denken und Fühlen im Alltag in ein paar Sätzen zu Beginn einer Therapiesitzung hat mich für sie sichtbar werden lassen, Transparenz und damit Sicherheit gegeben. Auch wird damit die chance erhöht, paranoiden verzerrungen und Projektionen der Boden zu entziehen. Unterschiedliche Ansichten über Alltagserfahrungen halfen, die Unterschiede, damit das eigene bewerten, zu explorieren.

 

primäre Bedürfnisse befriedigen

Empathisches Einfühlen in den persönlichkeitsgestörten Klienten ist von ihm nicht leicht erfahrbar, Empathie ist verbal häufig nicht zu kommunizieren. Weder ist es für den Psychotherapeuten leicht, empathisch zu sein, noch kann der Klient eine verbale Anerkennung durch den Therapeuten sicher wahrnehmen, da Worte nicht mit den entsprechenden Empfindungen und Affekten verbunden sein müssen. Hier bietet es sich an, auf frühe Formen der Einfühlung, wie sie in der vorsprachlichen Zeit vorherrschend sind, zurückzugreifen. Therapeutische Empathie kann dann in passenden Gesten ihren Ausdruck finden, wenn sie augenblickliche Bedürfnisse befriedigen. Die prompte und richtige Befriedigung von Bedürfnissen ist dann der "Empathie-Beweis". Solche Gesten können sein: Körperkontakt (z.B. im rechten Moment ein an die Hand nehmen) oder die Befriedigung anderer konkreter bedürfnisse. So ist es denkbar, dass ich bei durst ein Glas Wasser bringe, und zwar nicht erst dann, wenn ich ausdrücklich darum gebeten werde. Die Gratwanderung zwischen einem sich-Aufdrängen und der unmittelbaren Empathie, die durch taten transportiert wird, nicht durch Worte, sondern durch ein Verhalten, das wie ein Geschenk ist, nicht erbeten werden muss, ist gewöhnlich sehr schwierig und nur durch das Eingehen eines gewissen risikos machbar. Dieses Risiko lohnt, wenn der Klient die nonverbale Empathie-Erfahrung als Grundlage für verbale Selbstexploration nutzen kann.

 

Unverständliche Handlungen des Klienten mitmachen

ich beobachtete in der gruppe eine Klientin, die durch einzeltherapie mit mir in einem vertrauten Verhältnis stand, wie sie ihre Hände auf ihren Kopf legte und drückte. Ohne ihre Geste zu verstehen ging ich zu ihr und legte meine Hände auch auf ihren Kopf. Sie zog die ihren langsam weg, ließ meine liegen, nahm meine, drückte sie auf ihren Kopf und weinte. Später konnte sie darüber reden. Es war das Berührtsein von der Hilfe, die sie erfuhr, das Erhalten eines geschenks, das sie nie erbeten hätte, es war die Versicherung vor der Angst, "nach oben abzuheben", das Erübrigen einer drohenden Depersonalisation, das Angebot von Sicherheit im Moment der Bedrohung.

 

Empathisches Verstehen durch Taten kommunizieren.

Verstehen sollte bei Persönlichkeitsstörungen nicht nur verbal kommuniziert werden. Das Ansprechen von Gefühlen ist schwierig, da Gefühle gewöhnlich nicht wahrgenommen bzw. verleugnet werden. So geht eine einfache Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte ins Leere, sie trifft nicht auf ein Selbst, das damit eine Anerkennung wahrnehmen könnte. Empathisches Verstehen muss ursprünglicher, auch nonverbal kommuniziert werden. Dabei ist wichtig, nonverbale Signale auch verbal zu begleiten, da das integrierte Selbst schließlich wesentlich verbal organisiert ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Flucht in die Begrifflichkeit die Funktion einer Abwehr haben kann. Diese verbale Abwehr kann nonverbal umgangen werden. So kann es manchmal wirkungsvoll sein, zur rechten Zeit zu lachen, die Hand zu nehmen, oder die Haltung oder den Atem spüren zu lassen.

 

Akkurates empathisches verstehen der Gefühle ist mitunter problematisch, da der Persönlichkeitsgestörte weniger seinem Fühlen als seinem Handeln Bedeutung beimisst. Die auf Grund seines Verhaltens vermuteten und angesprochenen Gefühle mögen weitgehend geleugnet werden, so dass die Gefahr besteht, dass sich der Klient auch bei überprüfbar richtigen Verbalisierungen nicht verstanden fühlt. Kognitive Aufklärungsarbeit kann hier hilfreich sein. Auch ist die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Verhalten hilfreich. So ist z.B. ein Nähewunsch anzuerkennen, nicht aber ein entsprechendes Verhalten, Klammern.

 

Neue Erfahrungen anbieten

Da Worte nicht ausreichen, müssen Erfahrungen ermöglicht werden, um sie verbal zu begleiten. So kann es über erlebensaktivierende Methoden in einem angemessenen Kontext (Heinerth 1976) zu Selbsterfahrungen kommen, die  -  richtig begleitet  -  das Selbstkonzept konstituieren. Erlebensaktivierende Methoden sind in Misskredit geraten (cf Höger 1995), da sie, wenn sie unreflektiert als Selbstzweck ohne angemessene Indikation instruiert werden und ohne die notwendige verbale Selbstexploration, zerstörerisch wirken können.

 

Verbale begleitung aller nonverbalen Interventionen

Was auch immer geschieht an nonverbalem ausdruck oder nonverbalen interventionen, es muss verbal begleitet werden. da das Selbstkonzept verbal codiert ist, ist es notwendig, alle Erfahrungen, besonders die neuen organismischen, in Worte zu fassen.

 

Die Selbstkongruenz des Therapeuten pflegen

Persönlichkeitsgestörte sind besonders misstrauisch. Der Therapeut wird laufend auf seine Motive hin überprüft, persönliche Wertungen werden erfragt. Jede Unsicherheit, die nicht eingestanden wird, wird erspürt, bloßgelegt und kann Ursache für Missverständnisse und Beziehungskrisen werden. Größte Wahrhaftigkeit und auch eigene Selbstexploration des Therapeuten sind wichtig. Die Beziehung, die dem Klienten angeboten wird, ist auch real zu gestalten - wenn auch nur im vorgegebenen Rahmen. Das Gespür des Klienten für Inkongruenzen auf Seiten des Therapeuten ist groß: Schnell ist für ihn die gesamte Beziehung fundamental in Frage gestellt. Häufig weiß er nicht, worin die Inkongruenz besteht, aber er spürt die Spannung. Er ist für Spannungen sehr sensibel, auch wenn er sie nicht versteht, weder bei sich noch bei anderen.

 

Förderung einer selbst erfahrenen Selbstexploration

Persönlichkeitsgestörte haben ein Selbst, das zu wenig auf eigenen Erfahrungen beruht, zu wenig auf einem organismischen Bewertungsprozess begründet ist, als dass sicher gewährleistet wäre, durch Selbstexploration ihr "wahres" Selbst zu finden. So trägt Selbstexploration nur dann zu einer Selbstentwicklung bei, wenn auch Erfahrungen gemacht werden können, die eine neue Bewertung erhalten, und zwar eine organismische. Eine Selbstexploration ohne diese Neubewertung birgt die Gefahr, dass nur Teile des Selbstbildes stabilisiert werden, die zu sehr konstruiert, zu sehr erfahrungsunabhängig sind und nicht miteinander integriert werden können und so Inkongruenz verfestigen. Damit bedarf es zunächst vor einer Selbstexploration einer neuen Erfahrung und ihrer Symbolisierung.

 

Eine neue Erfahrung wird zuerst durch eine neue und neuartige Beziehung ermöglicht. So hat sich der Therapeut als Person einzubringen, also eine Kommunikation von Person zu Person anzubieten. Keine erfahrung ist fundamentaler als eine begegnung von Mensch zu Mensch. Dieser Kommunikationsprozess hat das zu leisten, was ehemals versäumt wurde, nämlich dem Klienten das zu geben, was er früher vermisste: eine stabile, authentische und emotional sichere Beziehung, die ihr über die Anerkennung ihrer Emotionen hilft, diese zu symbolisieren und in das eigene Selbst zu integrieren.

 

Eigene Wertungen einbringen

Die Wertungen des therapeuten beziehen sich nicht nur auf seine eigenen Vorstellungen, sondern auch auf die des Klienten. Das scheint dem Gebot der Unbedingtheit der Wertschätzung zu widersprechen und ist doch hilfreich dort, wo der Klient sich unter falschen Prämissen abwertet. So fühlen sich Klienten häufig schuldig, wenn sie sozial oder sexuell missbraucht wurden. Der Therapeut hat zwar anzuerkennen, dass er die Schuldgefühle als solche im vordergründigen Kontext versteht, und hat doch auch zu erkennen zu geben, dass er Schuld und Verantwortung für kindliches erdulden anders bewertet. Die Verantwortlichkeit für den Umgang in der gegenwart bleibt davon unberührt.

 

Vermittlung von Wissen und Informationen

Die dem Bewusstsein nahen Elemente des Selbst sind verbal (in Kognitionen, Selbstüberzeugungen) organisiert. Bestimmte Überzeugungen und Auffassungen geraten bei Persönlichkeitsgestörten mitunter in Widerspruch mit Erfahrungen, die sie in der Psychotherapie machen. Auch ihr kognitives Selbstverständnis wird erschüttert. Die damit verbundene Verunsicherung mündete in den Wunsch, emotionale Probleme auch sachlich zu diskutieren. So sind Themen wie die folgenden relevant:

·        Was ist Realität?

·        Was ist Beziehung, wozu ist sie nötig?

·        Was ist Liebe?

·        Was ist der Unterschied zwischen Gefühl, Denken, Handeln?

·        Warum bedarf es der Abhängigkeit, um Autonomie zu entwickeln?

·        Wo sind die Grenzen der Abhängigkeit?

·        Wo sind die Grenzen einer Beziehung?

·        Wo sind die Grenzen einer therapeutischen Beziehung?

·        Wie gehe ich mit Wut um?

·        Wie gehe ich mit Verletzungen um?

·        Wie gehe ich mit Spannungen um?

·        Wie gehe ich mit zärtlichen Gefühlen in der Therapie um?

·        Wie ehrlich darf ich sein, wie höflich muss ich sein?

 

Förderung wahlfreier Regression

Das Verstehen des Gesprächspsychotherapeuten hat sich auf die Erfahrungen zu richten, die das Erleben des Klienten im Hier und Jetzt bestimmen. Das kann bei frühen Störungen das Erleben sein, wie es Kinder haben, die noch nicht drei Jahre alt sind. Regelhaft stellt sich dabei eine Beziehung ein, wie sie zwischen Mutter und Kind in dieser Zeit üblich ist. Der Klient regrediert und überträgt seine kindlichen Gefühle auf den Therapeuten. Das bedeutet, dass in der Regression nicht nur die Geborgenheit des Kindes in den Armen der Mutter gesucht wird, sondern zugleich auch Angst und Misstrauen auftauchen wie damals, nämlich als Ausdruck primärer Inkongruenz. Ambivalent werden Sehnsucht und Distanzwünsche erlebt, die jetzt selbstexplorativ integriert werden können. In der Bearbeitung dieses Misstrauens liegt die Chance für die Beziehung, die es erlaubt, Nähe aufzubauen, dem Klienten Sicherheit zu geben, ihn die Sicherheit spüren zu lassen, um in dieser Sicherheit eine neue Autonomie zu wagen.

 

Wichtig ist, dass sich der regressive Prozess auf die Dauer der Sitzung begrenzen lässt, d.h., dass der Klient die Möglichkeit hat, die Regression zu nutzen und sie auch zu beenden.

 

Körperkontakt

In Phasen der Regression ist sichere emotionale Begleitung nötig. Verbaler Kontakt mag nicht immer ausreichen, alte Ängste zu überwinden. Hier ist auch Körperkontakt indiziert (über Indikation von Körperkontakt und seine Praxis habe ich 1996 berichtet). Die besondere Brisanz von Körperkontakt bei Persönlichkeitsstörungen liegt in der hohen Wahrscheinlichkeit, dass solche Personen sehr häufig in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erfahren haben. Hier sind Misstrauen und Angst vor Nähe besonders zu respektieren.

 

Andererseits ist hier jedoch die Chance gegeben, eine andere als die erlebte, gewohnte und gefürchtete Art des Körperkontaktes wieder erfahren zu lassen, um Sicherheit zu geben und um die körperliche Nähe von der zwangsmäßigen Assoziation mit Sexualität samt Schmerzen, Angst und Ekel zu trennen.

 

Auch ohne Regression kann Körperkontakt dazu beitragen, Angst zu reduzieren. Körperkontakt ist ein unbedingter Sicherheitsauslöser, sofern die Beziehung hinreichend vertrauensvoll ist.

 

Förderung der Expressivität

Persönlichkeitsgestörte Menschen ziehen sich häufig in Ermangelung einer sicher gegründeten Autonomie in eine Autarkie zurück: "Ich brauche niemanden!". Stolz ("Um meine Würde zu wahren!") neigen sie dazu, sich von den Menschen abzuwenden, um Verletzungen zu entgehen. Es ist der Versuch, Gefühle zu verheimlichen, zuerst vor anderen, schließlich auch vor sich selbst. Ihr Motto ist: "Dir zeig' ich nichts!". Diese Klienten versuchen, jeden echten und starken Gefühlsausbruch zu vermeiden, besonders den der Wut (müssen sie doch Gefahr laufen, dass sie dafür Konsequenzen zu tragen haben), und den des Schmerzes, dessen Erfahrung kaum symbolisiert werden kann. Sie haben gelernt, dass ihr Schreien nach Nähe ungehört geblieben ist, ihre Bedürfnisse zu wenig anerkannt wurden. Wenn ein Klient diesen Mangel erfährt und doch weint, weint er gewöhnlich nach innen, d.h. er versucht, seine Tränen zu vermeiden, um zu verhindern, dass seine Gefühle sichtbar werden, und dass er selbst gesehen wird.

 

Die Förderung des Ausdrucks durch Ermutigung und Anerkennung erleichtern die Annahme bedrohlicher Gefühle. Der direkte, wenn auch kanalisierte und ritualisierte Ausdruck schützt den Klienten und sein Gegenüber, den Therapeuten und die Beziehung. So ist es ein wichtiger Schritt für Klienten, dass sie zu ihren Gefühlen stehen und sie ohne Angst zum Ausdruck bringen können, d.h. Mut fassen, ihre Wut und später den dahinter liegenden Schmerz wirklich auszudrücken, dass Weinen hörbar wird, laut sein kann. Dadurch bekommen Gefühle wieder ihre kommunikative Funktion. Der Prozess des Ausdrucks von Gefühlen befriedigt und verstärkt sich selbst, bis zum Schreien. Die kathartische Wirkung wird durch die Anerkennung, die der angemessene Ausdruck erfährt, weiter verstärkt, eine Symbolisierung von Schmerz und Wut gefördert. (Über Kriterien der Angemessenheit von Psychokatharsis habe ich 1995 berichtet.)


 

Förderung von Struktur

Eine Gestaltung des Lebens nur über die Vernunft ist anstrengend. Wenn aber jeder Intuition und allen Gefühlen misstraut wird, ist eine kognitive Verarbeitung (zur Selbstbehauptung) wichtig. Tritt dann eine Änderung der Lebensbedingungen ein, verunsichert das, alles muss neu bedacht werden. Durch die Psychotherapie können viele Selbstverständlichkeiten verloren gehen, so dass alte Strukturen fragwürdig werden, neue gesucht werden müssen, um Sicherheit zu gewährleisten. Dies gilt für die alltägliche Lebensführung und sichtbar auch für die Strukturen im Umfeld der Therapie. Eindeutige Abmachungen über Termine, Dauer, Bezahlung, Ferienregelungen sind immer wichtig.

 

Eine häufige Frage von Klienten bei neuen Ereignissen ist: "Wie soll ich damit umgehen?". Alleiniges Verbalisieren der Gefühle ist dann nicht ausreichend, wenn die Ressourcen für eine eigene Lösung nicht gegeben sind. Es bietet sich an, dass der therapeut selbst darüber spricht, welche Möglichkeiten er für sich sähe und was diese Lösungen für ihn bedeuten würden. Diese Anregungen fördern gewöhnlich  -  vielleicht über widerspruch  -  die Selbstexploration der Klienten und erlauben die Betrachtung von Strategien, die der Problemlösung dienlich sein können.

 

Zur Strukturgebung gehört auch die bewertung von rahmenbedingungen: kriminelle Lösungen, Ehescheidung, berufliche Veränderungen. Die gewachsene Struktur der Lebensbedingungen der Klienten ist in sich konsequent und resultiert aus seinen rettungsmaßnahmen. Sie sollte nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden: In der Psychotherapie geht Akkomodation vor Assimilation.

 

Hier zeigt sich deutlich, dass Psychotherapie bei persönlichkeitsstörungen nicht nondirektiv sein kann, aber zwingend klientenzentriert.

 

Förderung einer organismischen Ganzheit

Es gehört immer auch zum absichtsvollen therapeutischen Handeln, das körperliche Empfinden der Klienten, das ihnen noch am ehesten zugänglich ist, in Beziehung zu setzen zu Ereignissen, die sie erlebt haben. Das gilt sowohl für die Affekte, die diese Ereignisse begleitet haben, als auch für Kognitionen, Begriffe, Sätze und Selbstüberzeugungen, um die Integration von Emotionen und der kognitiven Interpretation des Erlebens zu ermöglichen.


 

Förderung der Identität mit sich selbst

Die Zusammenführung der ursprünglich unverbundenen Selbstanteile kann durch die Wahrnehmung dessen, was sicher zur eigenen Identität gehört, gefördert werden. Dazu gehören Körperempfindungen, z.B. beim Atmen. In Zeiten einer unsicheren Identität ("Ich weiß nicht, wer ich wirklich bin!", "Es gibt so etwas wie einen Schalter in mir, dann bin ich jemand anderes!") ist die Kontaktaufnahme mit der eigenen Körperlichkeit hilfreich. Klienten können dann erfahren, dass ihr Organismus jeweils der gleiche ist, unabhängig davon, ob sie als Automat funktionieren, sich dem Berufsleben stellen, oder sich in Panik klein und hilflos fühlen. Diese Einheit ihres Selbst zu spüren ist verwirrend und ein aktiver Prozess, zu dem Mut und Begleitung erforderlich sind.

 

Überwinden der Sprach- und Begriffslosigkeit

Bestimmte Körperempfindungen und Gefühle, wenn sie denn wahrgenommen werden, haben bei persönlichkeitsgestörten Klienten keine begrifflichen Fassungen; sie müssen erst wie Vokabeln gelernt werden. Der häufige Satz "Ich weiß nicht!" repräsentiert diesen Mangel. Er ist Hinweis darauf, dass organismisch etwas geschieht, das nicht verstanden wird. Eine Anerkennung dieses Geschehens durch den Therapeuten mag sich als schwierig erweisen. Der Therapeut hat dann anzuerkennen, dass dieser Satz eine Metapher für unverstandenes Geschehen ist, nicht dafür, dass wirklich nichts ist - was die Klienten gewohnt sind, sich selbst vorzumachen.

 

Umgekehrt blieben auch bestimmte Kognitionen unverstanden. Sätze wie "Ich vertraue Dir!" oder "Ich mag Dich!" haben keine Repräsentanz im Organismus, solange sie nicht mit organismischen Erfahrungen verbunden werden können. Eine erprobte Methode, Begriffe und organismisches Geschehen in Beziehung zu setzen, bietet Focusing:

 

Focusing

Der Wert des Focusing liegt in der Verbalisierung des Experiencing im Wechsel mit dem Erleben. Die gemeinsame Verarbeitung des Erlebten mit dem Therapeuten ist nötig. Auch ein Rapport mit den Klienten während des Fokussierens hat sich als hilfreich erwiesen. Es geht beim Focusing besonders um zwei Ziele, die im Hinblick auf die Persönlichkeitsstörungen wichtig sind:

  -   Integration von Emotion und Kognition,

  -   Integration von Körperlichkeit und Emotion.

Das Verstehen des Ausdrucks des ganzheitlich reagierenden Organismus und die Annahme und begriffliche Fassung des Erlebten versöhnen mit dem sonst als fremd und unbotmäßig erfahrenen Körper.

 

 

Schlussbemerkungen

 

1. Ich hoffe, in ausführlichkeit und einer notwendig erscheinenden Redundanz anschaulich beschrieben zu haben, wie grundsätzlich unterschiedlich Persönlichkeitsstörungen und Neurosen zu verstehen und zu behandeln sind. Dabei möchte ich abschließend betonen, dass es sich nur im Extremfall um eine stringente Dichotomie handelt, sondern um zwei Störungsformen, die sich durchaus überlagern können, mit der Möglichkeit, dass eine Form in den Vordergrund rücken kann, wenn die andere behandelt wird.

 

2. Ich hoffe, das Verständnis für Persönlichkeitsstörungen vertieft zu haben, damit Psychotherapeuten die unterschiedlichsten und nicht gleich verständlichen Verhaltensweisen solcher Klienten nicht persönlich nehmen müssen, sondern dass Angriffe als Symptome verstanden werden können. Aggressive akte vom offenen Misstrauen, scheinbarer Verlogenheit bis zum therapeutenwechsel sind verständlich und müssen weder auf eigenes versagen noch auf Bösartigkeit der Klienten zurückgeführt werden.

 

3. Alle vorgestellten Hypothesen fügen sich in einander und erscheinen plausibel. Eine empirische Überprüfung ist notwendig, in Arbeit, zeitigt interessante zusammenhänge und soll demnächst publiziert werden.


Literatur

 

Biermann-Ratjen, E.-M & Swildens, H. (1993). Entwurf einer ätiologisch orientierten Störungslehre im Rahmen des klientenzentrierten Konzeptes. In: Eckert, J., Höger, D & Linster, H. Die Entwicklung der Person und ihre Störung. Köln: GwG-Verlag, 57-142.

Heinerth, K. (1976). Erlebensaktivierende Methoden in der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie. In: Peter Jankowski et al. Klientenzentrierte Psychotherapie heute. Göttingen: Hogrefe, 135-140.

Heinerth, K. (1995). Adäquates Schreien des Klienten unterstützt die Umstrukturierung seines Selbstkonzepts. In: J. Eckert. Forschung zur klientenzentrierten Psychotherapie. Köln: GwG-Verlag, 89-103.

Heinerth, K. (1996). Körperkontakt in der klientenzentrierten Psychotherapie. In: Esser et. al. Erlebnisaktivierende Methoden. Köln: GwG-Verlag, 5-23.

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Anschrift des verfassers:

Prof. Dr. klaus heinerth,      Universität München,

Leopoldstr. 13, 80802 München    

Heinerth @ Heinerth de

 

veröffentlicht:

 

Versperrte und verzerrte Symbolisierungen.: Zum differentiellen Verständnis von Persönlichkeits- und neurotischen Störungen in theorie und praxis. In: Iseli, C.; Keil, W. W., Korbei, L.; Nemeskeri, N.; Rasch-Owald, S.; Schmid P. F. & Wacker P. G. (Hrsg.). (2002), Identität - Begegnung - Kooperation. Person- / Klientenzentrierte Psychotherapie und Beratung an der Jahrhundertwende. Köln: GwG-Verlag, 145-180