Versperrte und verzerrte Symbolisierungen.
Zum
differentiellen Verständnis von Persönlichkeits- und neurotischen Störungen in theorie und praxis
Klaus Heinerth
Zusammenfassung
Rogers stellt
der akkuraten Symbolisierung die verzerrte oder geleugnete gegenüber, wobei er
weiter nicht zwischen einer geleugneten und einer verzerrten Gewahrwerdung
unterscheidet. Beide Formen der Abwehr versteht er als Fehlentwicklung in
seinem Konzept der Offenheit gegenüber Erfahrungen. es zeigt sich jedoch in der therapeutischen Praxis, dass eine
aktiv abgewehrte Erfahrung, die verzerrt (bzw. mehr oder weniger bis vollständig
geleugnet) wird, anders zu bewerten ist als eine Blockierung, die auf der
Tatsache beruht, dass der Organismus in bestimmten Bereichen seine Erfahrungen
nicht versteht, da er ein ganzheitliches Selbstkonzept noch überhaupt nicht hat
aufbauen können. Wenn nämlich in der kritischen Phase der Selbstkonzeptentwicklung
kein Gegenüber zur Verfügung stand, das empathisch die Erfahrungen des sich
entfaltenden Organismus hatte begleiten können, haben sich bestimmte Aspekte
des Selbstkonzepts nicht ausformen können. Damit sind später entsprechende
organismische Erfahrungen einer bewussten Zugänglichkeit versperrt und (im
Gegensatz zu den verzerrten Erfahrungen) selbstempathisch nicht bewusst
erfahrbar. Es wird die Hypothese diskutiert, dass verzerrte Wahrnehmungen
(inklusive mehr oder weniger geleugnete Erfahrungen) neurotische
Abwehrmaßnahmen sind, um das Selbstkonzept zu schützen, während versperrte
Erfahrungen eher bei Persönlichkeitsstörungen zu beobachten sind, die durch ein
Fehlen von bestimmten Selbstaspekten gekennzeichnet sind. Zusammen mit dieser
Hypothese werden weitere Implikationen diskutiert: · Das Selbstkonzept macht in seiner
Entwicklung einen qualitativen Sprung. · Persönlichkeitsstörungen
mit versperrten Symbolisierungen basieren eher auf einem Mangel an
empathischem Verstandenwerden in früher Kindheit, während neurotische
Störungen erst später aus einer mangelhaften Unbedingtheit der Wertschätzung
erwachsen. · Das Konzept des
Prozess-Kontinuums über sieben Stufen der Offenheit gegenüber Erfahrungen von
Rogers muss um eine Vor-Phase erweitert werden. · Die diskrepanz zwischen Selbst- und Idealbild quält Neurotiker,
nicht persönlichkeitsgestörte Menschen. · möglichkeiten des Wachstums des Organismus gestalten sich je
nach Störung unterschiedlich, verschiedene Kompensationen sind jeweils
charakteristisch.
Implikationen für die
therapeutische Praxis werden ausführlich diskutiert.
Gliederung
Ein qualitativer
Sprung in der Entwicklung des Selbstkonzepts
Das
Selbstkonzept und sein Beginn
Der
Beginn eines jeden Systems
Zum aufbau des Selbst
Zum Ausbau des Selbst
Das Analogie-Haus
zum Verständnis von Auf- und Ausbau des
Selbstkonzepts
Ontogenese
des Selbstkonzepts
Entwicklung
der inkongruenz
Bedingte Wertschätzung beim Ausbau des Selbstkonzepts
Vergleich der Fehlentwicklungen
Unterschiede:
Persönlichkeitsstörungen und neurotische Störungen
Zum Verhältnis beider Störungsformen
Phänomenologie der Störung
Besonderheiten
des Erlebens und Verhaltens von Personen mit
Persönlichkeitsstörungen
Versperrtes Bindungserleben
Anpassung über Vernunft
Zerrissenheit
Versperrte Schmerzerfahrungen
Unverstandene Wut
Angst vor Gefühlen
Versperrte beschämung und
Schuldgefühle
Angst/Panik
Misstrauen
Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme
Die
Reichweite der Skala zur Prozesserfahrung
Persönlichkeitsgestörte
Klienten entwickeln durch Wachstum neurotische
Phänomene
Neurotische
Verzerrung
Änderung
des Selbstkonzepts
Differenzielle
Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und
neurotischen Störungen.
Symptomgestaltung
Psychotherapie
von Persönlichkeitsstörungen
Schlussbemerkungen
Literatur
Ein
qualitativer Sprung in der Entwicklung des Selbstkonzepts
Das Selbstkonzept und sein Beginn
Zwei Thesen von Rogers
(1951) suggerieren, dass sich das Selbst kontinuierlich entwickelt:
These VIII: "Ein Teil
des gesamten Wahrnehmungsfeldes entwickelt sich nach und nach zum Selbst."
These IX: "Als Resultat
der Interaktion mit der Umgebung ... wird die Struktur des Selbst geformt -
eine organisierte, fließende, aber durchweg begriffliche Struktur von
Wahrnehmungen von Charakteristika, Beziehungen des 'Selbst', zusammen mit den
zu diesen Konzepten gehörenden Werten.“
Auch seine Definition des
Selbst geht von einer Ganzheit aus: "Man kann es sich als eine strukturierte,
konsistente Vorstellungsgestalt denken. ... Diese Gestalt ist zwar fließend und
veränderlich, aber sie ist in jedem Augenblick eine Einheit." (1975:
deutsch 1977, S. 35)
Phänomenologisch erscheinen
diese Annahmen richtig, nicht jedoch logisch-systematisch: Wie von jedem
System, das sich entwickelt, kann auch von der Entwicklung des Selbstkonzepts
erwartet werden, dass es qualitative Sprünge aufweist, nämlich mindestens
zwischen den beiden unterscheidbaren Phasen des Auf- und des Ausbaus. Für das
Selbstkonzept gelten die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie für alle offenen
Systeme am anfang ihrer Entwicklung:
Der Beginn eines jeden Systems
|
System
Phase
I: Aufbau, Start Phase
II: Ausbau, Betrieb
Auto Fertigung Betrieb
Beruf Lehre/Studium Berufstätigkeit
Beziehung Aufnahme Gestaltung
Bildung Ausbildung Fortbildung
biologische
Art Entstehen Ausdifferenzierung
Computer Hochfahren Betrieb
Curriculum Entwicklung Anwendung
Drama Konzipierung Aufführung
Epidemie Bildung Ausweitung
Familie Gründung Leben
Fertigkeit Erwerb Ausübung
Fest Warming up rauschendes Fest
Feuer Entzündung Brand
Gerät Montage Betrieb
Gesetz Entwicklung Umsetzung
Grippe Inkubation Ausbreitung
Gruppe Kontaktaufnahme Kontaktgestaltung
Haus Bau/Aufbau Ausbau
Herrschaft Aufrichtung Ausübung
Inflation Verursachung Aufrechterhaltung
Klinik Gründung Leitung
Konsens Schaffung Konsolidierung
Krebs Entstehung Wucherung
Kultur Ursprung Blüte
Leben Entstehung Fortpflanzung, Vererbung
Motor Start Betrieb
Partei Parteigründung Parteiarbeit
Partnerschaft Verliebtsein Lieben
Aufbau Ausbau, Gestaltung Selbstkonzept Entstehung Anpassung
Einrichtung Umstrukturierung
Errichtung Differenzierung
Siedlung Gründung Bestehen, Florieren
Symptom Bildung Blüte
Theorie Formulierung Bewährung
Universität Gründung Führung
Universum Urknall Existenz
Vertrieb Organisation Operation
Werkzeug Fertigung Einsatz
Wirklichkeit Konstruktion Bewährung.
Der qualitative Sprung wird
besonders deutlich bei der Entwicklung des biologischen Lebens (Aufbau einer
Reproduktionsfähigkeit und die weitere sich selbst entfaltende Fortpflanzung
genetischer Information) und der Entwicklung von Kulturen (von einer so
genannten primitiven Kultur zu einer Hochkultur, die völlig neue Kriterien des
menschlichen Bewusstseins mit sich bringt und zur Entwicklung des Homo sapiens
zum Homo sapiens sapiens führt. (Diesen Sprung in der Phylogenese vom
unreflektiert lebenden und fühlenden Menschen zum Menschen mit Bewusstsein hat
Julian Jaynes in seinem Buch "Der Ursprung des Bewusstseins" sehr eindrücklich
herausgearbeitet.)
Im Zentrum unseres
Interesses steht ein solcher Sprung in der menschlichen Ontogenese. Der Mensch
wird nicht mit seinem fertigen Selbst geboren, er muss es sich erst erarbeiten.
Hier gibt es einen qualitativen Sprung vom Aufbau zur Differenzierung des
Selbst, wobei uns in diesem Zusammenhang nicht nur die Entwicklung als solche
interessiert, sondern auch die Störungen in diesen beiden Phasen, die
naturgemäß zu jeweils unterschiedlichen Konsequenzen für die weitere
Entwicklung führen müssen. Im schlimmsten Fall verhindern Störungen während der
Aufbauphase des Selbst den Übergang zur nächsten, der Differenzierungsphase: Wo
nichts ist, kann auch nichts wachsen. Jede Differenzierung bleibt dann fundamental
gestört, ein wirklich konsistentes Selbst wird nicht errichtet.
Zunächst soll verdeutlicht
werden, was die Grundlagen jeder Selbstkonzeptentwicklung sind. Kasten
"Organismische Erfahrung" zeigt diese Grundlage jeder Selbstentfaltung
und veranschaulicht, wie aus der Bewertung einer veränderung in der Bedürfnislage von affekten, besonders, wenn sie auf angeborenem bedarf
beruhen, je nach der Erfahrung von Befriedigung oder Frustration, die
unterschiedlichsten gefühle hervorgerufen
werden. Diese Gefühle und ihr Ausdruck signalisieren die Bedürfnislage anderen, die für das Wohlergehen des organismus verantwortlich sind, so
lange die Person dies nicht selbst sein kann. Diese Rückkopplung bedarf der
Einfühlung, ohne die der Organismus verloren wäre: Er würde seine bedürfnisse nicht befriedigt bekommen
und nicht verstehen, und wird so später nicht wissen können, wer er ist und was
er braucht und will.
Rückkopplung
über Erfahrungen aus: - der sozialen Umwelt, - aus dem eigenen Organismus - über Selbsterfahrungen
Psychotherapie
ist -
die Wahl (Weisheit) der richtigen Entscheidung: repulsive oder
propulsive Lösungsversuche -
psychokathartischem Ausdruck: von A nach B oder von C
nach D und D nach E -
Offenheit für Befriedigung: F -
Es
etabliert sich so ein zirkel
zwischen dem Organismus, seiner Bedürfnislage, dessen Ausdruck und empathischem
verstanden-Werden sowie den
Konsequenzen, die eine Veränderung der Bedürfnislage bewirken - oder
auch nicht. Die wiederholte verbale Begleitung dieses Vorgangs ermöglicht
dessen bewusste Wahrnehmung und Bennennung. Metaphern korrespondieren so mit
organismischen Erfahrungen. Dieser Zirkel auf allen relevanten Ebenen ist das
Fundament für den Aufbau des Selbstkonzepts zu einer organisierten Ganzheit. So
ist die verbale Kommunikation für den aufbau
des Selbstkonzepts unumgänglich. Organismische Erfahrung "existiert; aber
wie wir sie sehen, basiert auf metaphorisch gebildeten Annahmen. Was uns einfällt,
wenn wir sie sehen, hängt immer mit Bekanntem zusammen, das dafür als Metapher
genommen wird. Die dinge
existieren unabhängig von ihrer benennung.
Aber ohne sprache, die die
Metaphern bereitstellt, können wir sie nicht sehen." (Weizenbaum
2000).
Zum aufbau des Selbst
Die Entwicklung des
Selbstkonzepts umfasst verschiedene Inhalte entsprechend den unterschiedlichen
Bedürfnissen. In der ersten Phase werden die einzelnen Aspekte des Selbstkonzepts
aufgebaut, bis eine ganzheitliche Gestalt die Identität bildet. Fehlt in dieser
Phase die Empathie für einen Aspekt des Selbstkonzepts, so wird das
Selbstkonzept hier eine Lücke aufweisen, z.B. aggressiven Impulsen verständnislos
ausgeliefert sein.
Mit der Entwicklung des
Selbst vor der Erreichung der ersten Stufe der organisierten Ganzheit hat sich
Rogers kaum beschäftigt. Immerhin unterscheidet er zwei Charakteristika des
gestörten Verhaltens, die typisch für die beiden Phasen sind: Das abwehrende
oder neurotische und das desorganisierte Verhalten. Beim abwehrenden Verhalten
geht er davon aus, dass das Selbst an sich intakt ist und im Bemühen, sich
intakt zu halten, kämpfen, abwehren muss. Hier geht es um Selbstbehauptung, Selbstbefestigung.
Für den Fall der Desorganisation bedeutet das, dass die organisierte Ganzheit
zu Zeiten nicht vorhanden ist, entweder überhaupt nicht aufgebaut wurde oder
unter zu großer Belastung zusammenbricht. Eine abwehr findet dann nicht mehr statt. Desorganisiertes
Verhalten entsteht, wenn das Selbstkonzept keine Kategorien bereithält, die
ablaufenden organismischen Prozesse zu verstehen.
Zum Ausbau
des Selbst
Nachdem
das Selbstkonzept eine erste und ganzheitliche Form erhalten hat, geht es für
den sich entwickelnden Organismus darum, die einzelnen Inhalte (Bindungsrepräsentanz,
Angsterfahrung etc) zu differenzieren und die angeborenen Bedürfnisse zu verfeinern
(z.B. einzelne Vorlieben und ihre Befriedigung). Dieser Ausbau des Selbstkonzepts
ist nur für solche Inhalte möglich, die im Selbstkonzept tatsächlich eine
Repräsentanz haben, weil sie zuvor aufgebaut wurden.
Das Analogie-Haus zum Verständnis von Auf- und Ausbau des Selbstkonzepts
Zur
Veranschaulichung und Verständnis des Modells bediene ich mich einer Analogie,
denn "...
alles was wir wissen, wissen wir nur über Analogie- und Metaphernbildung: Wir
erkennen nur auf der grundlage
von bereits Erkanntem. Etwas ähnelt dem anderen Etwas...." (Weizenbaum
2000).
Das
Selbstkonzept kann als ein Haus gedacht werden, das zunächst mit seinen Räumen aufgerichtet werden muss, bevor diese Räume eingerichtet
werden können. Das Selbstkonzept hat viele Räume, die den Grunderfahrungen des
Menschen entsprechen, nämlich seinen bedürfnissen
und ihren Befriedigungen. Die Räume haben Bezeichnungen wie Bindungserfahrung,
Aggressionserfahrung, die Erfahrung, richtig zu sein, etc.
Manche Räume sind, obgleich
sie vorhanden sind (Defizitbedürfnisse sind auch dann vorhanden, wenn sie nicht
bewusst erfahren werden), nicht zugänglich, weil sie keinen Namen haben. Sie
haben keinen Namen, weil sie bisher nicht betreten wurden. Sie werden nicht
betreten, weil sie unbekannt und bedrohlich sind, und weil es keinen Führer
gibt, mit dem zusammen man einen solchen Raum explorieren könnte, der
Phänomene, begriffe und
Zusammenhänge benennt. So bleiben sie unzugänglich, versperrt, obgleich ein
dumpfes bewusstsein davon besteht,
dass sie existieren, allein schon deshalb, weil andere von ihren Häusern
berichten, in denen es solche Räume gibt. Diese unzugänglichen Räume
entsprechen den versperrten Symbolisierungen.
Andere Räume sind
wohlbekannt, aber sie werden nicht alleine bewohnt. Es gibt da geliebte
Untermieter, die einen anderen Geschmack haben als man selbst. Ihnen zuliebe
erlaubt man, dass solche Räume stillos, dem eigenen Stil widersprechend,
verstellt werden. Die Einrichtung entspricht nicht den eigenen Bedürfnissen,
aber die Liebe zu den signifikanten anderen
ist wichtiger, man verrät seinen eigenen Geschmack, seine wirklichen Bedürfnisse - bis
zum vorauseilenden Gehorsam, das Zimmer nach dem vermuteten Geschmack des
anderen einzurichten, und dann gar zu glauben, es wäre der eigene. Die eigenen bedürfnisse sind zwar weiterhin vorhanden,
deren Wahrnehmung wird jedoch dem anderen
zuliebe verzerrt.
Die Sperrung der Räume habt
ihren Ursprung in mangelhafter empathischer Begleitung, die verzerrt möblierten
Räume basieren auf einer Wertschätzung durch bindungspersonen,
die in entscheidenden Aspekten nicht unbedingt ist, die sie an eigene Werte und
bedingungen knüpfen.
Diese Analogie erlaubt auch
die Vorstellung, dass Wahrnehmungen nicht generell versperrt sind, sondern nur
spezifische. Sie gestattet, dass man sich im eigenen Haus fremd fühlt, auch
wenn einige zimmer gut bewohnt werden
können (Persönlichkeitsstörungen können lange Zeit völlig unauffällig und
unsichtbar sein.). Sie erlaubt weiterhin
die Vorstellung, dass ein Haus einige versperrte Zimmer hat, dass aber
zusätzlich andere verzerrt, stillos möbliert wurden. (Man kann Läuse und Flöhe
haben!)
Diese Analogie legt auch
nahe, dass bei Versperrung zu vieler Räume die wenigen restlichen stärker
behauptet und stilsicher (egoistisch) für sich beansprucht werden (wer zu viele Läuse hat, braucht sich
vor Flöhen nicht mehr zu fürchten!), wie umgekehrt Räume nur falsch eingerichtet
werden können, die zugänglich sind. Persönlichkeitsstörungen erscheinen häufig
stabil, unauffällig, nicht neurotisch.
1. Wahrnehmung der
Veränderung eines internen Zustandes
(organismische
Erfahrung): z.B. Bedrohung, Kränkung, Lust
2. Bewertung der Veränderung
dieses Zustandes
3. spezifisches
Ausdrucksverhalten in Mimik, Gestik, Vokalisation
4. Handlungsbereitschaften
z.B. Suchverhalten bei Hunger
Fluchtreaktion bei Bedrohung
Angriff
bei Kränkung
Hinwendung
bei Anerkennung
5. Wahrnehmung dieses Geschehens
6. Bewertung dieser
Erfahrung: dem Organismus förderlich oder nicht?
7.
Verknüpfung
dieser Erfahrung, ihrer Bewertung, sowie der Empfindung, selbst beteiligt zu
sein
8.
Interpretation dieses
Geschehens: Symbolisierung, Verbalisierung
z.B. "Ich habe Angst!“ (Gefühle als
kognitive Fassung des Affektes) -
sofern möglich bei Verknüpfung mit
vorhandenen Wahrnehmungsmustern
9. Ausdruck dieses
Geschehens zur Einflussnahme auf die soziale Umwelt
10. Erfahren der sozialen
Rückmeldungen: Befriedigung - Frustration
11. Erfahren der sozialen
Wechselwirkung
12. Selbstexploration:
Integration der Erfahrung des Selbst im sozialen Feld
(Verflechtung mit Gedächtnis = alten Erfahrungen, mit
Selbstkonzept)
13. Empfindung, ein
integraler Teil des sozialen geschehens
zu sein
14. Erfahrung von
Kontinuität, Identität und Lebendigkeit
15. Differenzierung durch
Verfeinerung der Wahrnehmung (Selbst-Empathie)
(durch Wiederholungen)
16. Gewahrwerden des
Prozesses des Ich-Bewusstseins: Selbstbegleitung
(narratives
Sich-in-den-Schwanz-Beißen: "Ich erzähle mir etwas!") bis
zur erlebten
Ganzheit: Konstruktion einer widerspruchsfreien Identität:
Selbstreflexivität
zum Ausbau des Selbstkonzepts.
17. Bewertung der Passung
zum Selbstkonzept: förderlich oder bedrohlich?
Die Antwort ist die Grundlage einer neuen Erfahrung:
der Zirkel
schließt sich.
8: bei Versperrungen nicht unbedingt!
17:
kann bei Bedrohung des Selbstkonzepts zu Verzerrungen führen.
Die beiden Pfeile am Rande
bezeichnen die Gefährdungen der Entwicklung. In Zeile 8 wird auf den Umstand
hingewiesen, dass bei persönlichkeitsgestörten Menschen nicht jede Symbolisierung
möglich ist. Menschen ohne z.B. empathisch begleitete Bindungserfahrungen sind
später wenig in der Lage, ihre sozialen Gefühle korrekt zu verstehen.
In Zeile 17 ist der Umstand
angesprochen, dass Menschen konfligierende Bedürfnisse haben können:
orientieren sie sich an eigenen Erfahrungen, oder ist ihnen der Erhalt der
Liebe von Bezugspersonen wichtiger, auch wenn diese ihre Wertschätzung an
Bedingungen knüpfen. (Das weitere Schicksal wird unten näher betrachtet.)
Ontogenese des
Selbstkonzepts
Nach der Betrachtung der
Aktualgenese, die erfahrbar zugänglich ist, wird bei der betrachtung der Ontogenese sichtbar,
dass es hier kaum Unterschiede gibt. In dem Kasten "Ontogenese" sind
die Unterschiede durch fettdruck
kenntlich gemacht.
Besonders hingewiesen sei
wieder auf Punkt 8. Hier entscheidet es sich, ob erfahrungen zu Selbsterfahrungen werden. "Wir nehmen signale wahr. Die müssen verarbeitet
werden. Durch Interpretation. Ohne Interpretation von signalen entsteht keine Information, also auch kein wissen", damit auch kein
Selbstkonzept. "Nur der Mensch kann information
produzieren. Sie sind nicht in der Welt. Das heißt: Die Grenze meines Wissens
ist die Grenze meiner Fähigkeit zu interpretieren. Und diese Grenze wiederum
ist -
mit Wittgenstein - die Grenze meiner Sprache und damit die Grenze
meiner Welt. Die Art und Weise, wie ich signale
interpretiere, welche Information ich schöpfe, hängt mit meiner Art Analogien
zu bilden zusammen und ist immer das Ergebnis meiner Lebensgeschichte und sozialisation." Das gilt in
besonderem Maße für das Selbstkonzept. "Wer nichts von der Außenwelt
versteht, kann sie auch nicht interpretieren, vermutlich nicht einmal
wahrnehmen." (Weizenbaum 2000).
Dieser letzte Satz ist der
entscheidende. Werden organismische Erfahrungen nicht interpretiert, - und
sie können nicht ohne anfängliche verbale Begleitung interpretiert werden, -
werden sie auch nicht angemessen wahrgenommen, das Selbstkonzept bleibt
hier lückenhaft. Es geht nicht um einen aktiven Prozess der abwehr, sondern um das grundsätzliche
Versperrtsein einer Erfahrung. Obgleich die organismischen bedürfnisse fortbestehen, können sie
nicht bewusst wahrgenommen werden.
(Unterschiede zur Aktualgenese
sind fett markiert)
1. Wahrnehmung der
Veränderung eines internen Zustandes
(organismische
Erfahrung): z.B. Bedrohung, Frustration, Lust
2. Bewertung der Veränderung
dieses Zustandes
3. spezifisches
Ausdrucksverhalten in Mimik, Gestik, Vokalisation
4. Handlungsbereitschaften,
z.B. Suchverhalten bei Hunger etc.
5. Wahrnehmung dieses
Geschehens
6. Bewertung dieser
Erfahrung: dem Organismus förderlich oder nicht?
7. Verknüpfung dieser
Erfahrung, ihrer Bewertung, sowie der Rückmeldung (Empfindung), selbst beteiligt zu sein: Entwicklung
des "Körperselbst"
8. Anerkennung (statt Interpretation)
dieses Geschehens durch
Bindungspersonen: Symbolisierung,
Verbalisierung, z.B. "Du hast (statt: Ich habe) Angst!“ (Gefühle
als kognitive Fassung des Affektes).
Ohne diese
Anerkennung werden aus affekten
keine gefühle! (sofern
möglich bei
Verknüpfung mit vorhandenen Wahrnehmungsmustern)
9. Ausdruck dieses
Geschehens zur Einflussnahme auf die soziale Umwelt
10. Erfahren der sozialen
Rückmeldungen: Befriedigung - Frustration
11. Erfahren der sozialen
Wechselwirkung
12. Selbstexploration:
Integration der Erfahrung des Selbst im sozialen Feld
(Verflechtung mit Gedächtnis = alten Erfahrungen, mit
Selbstkonzept)
13. Empfindung, ein
integraler Teil des sozialen geschehens
zu sein
14. Erfahrung von
Kontinuität, Identität und Lebendigkeit
als System und seiner Repräsentation (Selbstkonzept)
15. Differenzierung des
Selbstkonzepts durch Verfeinerung
(Wiederholungen) der Wahrnehmung (Selbst-Empathie)
16. Gewahrwerden des
Prozesses des Ich-Bewusstseins: Selbst-Begleitung
(narratives
Sich-in-den-Schwanz-Beißen: "Ich erzähle mir etwas!") bis
zur erlebten
Ganzheit: Konstruktion einer widerspruchsfreien Identität:
Selbstreflexivität
zum Aufbau (nicht mehr Ausbau) des Selbstkonzepts.
17. Bewertung der Passung
zum Selbstkonzept: förderlich oder bedrohlich?
Die Antwort ist die Grundlage einer neuen Erfahrung:
der Zirkel
schließt sich.
8: ohne diese empathische Begleitung bleiben
Erfahrungen versperrt.
17: kann bei Bedrohung des Selbstkonzepts zu
Verzerrungen führen.
Der
wesentliche Unterschied zwischen der Ontogenese und der Aktualgenese besteht
darin, dass die Aktualgenese auf einer Selbstempathie beruht, die nur möglich
ist, wenn in der Ontogenese eine Empathie durch eine Bindungsperson dem
Individuum geholfen hat, sich selbst zu verstehen. Was damals beim Aufbau des
Selbstkonzepts von außen nötig war, ist jetzt durch das Individuum selbst
möglich. (aber eben nur immer dann, wenn in der Vergangenheit das sich
entwickelnde Selbst akkurat empathisch begleitet wurde). Die entscheidenden
Unterschiede zeigt der Kasten "Entfaltung des Selbstkonzepts".
Aufbauphase:
Ausbauphase:
Gründung des SK Erweiterung des SK
Entwicklung des SK: durch Integration durch Integration
erster Erfahrungen neuer Erfahrungen
(Selbst-Struktur) (Selbst-Textur)
durch Anerkennung durch Befriedigung durch Befriedigung des
der Erfahrungen: primärer Bedürfnisse, Bedürfnisses nach
passend und prompt Anerkennung
durch kongruentes empathische unbedingt
Gegenüber:
Bindungspersonen wertschätzende
Bezugspersonen
Klientenprozesse Offenheit für Erfahrungen,
Wachstum, Selbstkongruenz
Schwerpunkt
ganzheitliches selbstreflexives
Selbstkonzept Selbstkonzept
Identität
Selbst-Bewusstsein
in der Kontinuität im Hier und Jetzt
Für das Analogie-Haus
bedeutet das: Das Kennenlernen der einzelnen Räume verlangt, dass der Begleiter
durch das Haus alle Räume richtig benennt und betritt (auch die
Tabu-Räume), während es für die Einrichtung der Zimmer notwendig ist, dass der
Begleiter den Stil des Individuums unbedingt respektiert. Ein Zimmer
muss nach Erfahrungen und Bedürfnissen des Individuums eingerichtet werden,
nicht nach denen der Bezugspersonen und Begleiter.
Dass auch im Alltag akkurate
Einfühlung und unbedingte Wertschätzung beziehungsmerkmale
sind, die getrennt realisiert werden können, verdeutlichen folgende Aussagen:
Empathie (Perspektivenübernahme)
ohne Wertschätzung
"Du bist ein elender
Angsthase!" oder "Du Feigling!": Die Angst wird empfunden und
kommuniziert, aber zusammen mit abwertung.
"Sei nicht so gierig!": Das
Bedürfnis wird gesehen, aber entwertet.
"Ich sehe, was du brauchst, und ich gebe
es nicht!": Einer solchen Folter ist Prometheus ausgeliefert. Die Infamie
besteht eben im Umstand, dass Bedürfniswahrnehmung und Wertschätzung
auseinander klaffen.
Es gibt eine korrekte
Wahrnehmung von bedürfnissen
(wenn auch nicht der entscheidenden), deren Wahrnehmung kommuniziert und auch
verstanden wird, die aber mit einem sich entziehen
oder entwerten gekoppelt ist.
Wertschätzung (wenigstens vordergründig)
ohne Empathie
"Mein Lieber, hier sind
hundert Mark, amüsiere dich und vergiss es!"
"Du hast keinen Grund,
beleidigt zu sein! Komm', ich les' dir was vor!":
"Gutes Kind: Lass mich
los, hab' keine Angst und geh' spielen!"
"Dir zuliebe: Ich
füttere Dich!" Auch: "Ich
helfe Dir!": Wenn sich das Kind selbständig und ungeschickt versucht, wird
ihm zwar geholfen (es wertgeschätzt), aber seine Autonomiebedürfnisse werden
ignoriert.
Auch wenn eine Trennung von
Empathie und Wertschätzung möglich ist, wird die zerstörerische Wirkung des
Fehlens eines fehlenden Merkmals deutlich: sie sind nur im Verbund wachstumsfördernd.
Entwicklung der inkongruenz
Entsprechend den Prozessen der Entwicklung in der
Aufbau- und in der Differenzierungsphase gibt es spezifische Störungsformen.
Eine
ausbleibende Empathie der Bindungsperson für bestimmte primäre Grundbedürfnisse
in früher Kindheit unterbindet die Entwicklung des Selbstkonzepts in diesem
Bereich. Es kommt zu Lücken im Selbstkonzept, bestimmte Erfahrungen bleiben
bewusstem zugang versperrt.
Werden z.B. Bindungsgefühle nicht angesprochen und Bindungsverhalten ignoriert
oder gar bestraft, so werden diese Menschen, wenn sie Liebe, Freundschaft, soziale
Verbundenheit erleben, nicht verstehen, was mit ihnen passiert. Es bleiben nur
dumpfe Ahnungen, dass etwas nicht in Ordnung sei, vielleicht Einsamkeit, die
nicht verstanden wird.
Bedingte Wertschätzung beim Ausbau des
Selbstkonzepts
In der
Differenzierungsphase, wenn das Selbst schon als solches etabliert ist, wird es
sich vor Selbstkonzept-inkompatiblen Erfahrungen schützen wollen, wenn es sich
nicht sicher genug fühlt, die diskrepanten Erfahrungen zu integrieren. Unter
Bedrohungen wird der Organismus bemüht sein, die bisherige Selbststruktur
sicherheitshalber aufrecht zu erhalten. es
wird dem Organismus wichtiger, soziale Beziehungen zu pflegen und die Anerkennung
von Bezugspersonen zu erhalten, von denen er ja abhängig ist, als eigene
Bedürfnisse und Wahrnehmungen zu spüren. Sie werden zurückgestellt und
verbogen. Er erfährt die Inkongruenz zwischen inkompatiblen Bedürfnissen, die
im optimalen Fall im Selbstkonzept integriert wären, und seinen Bedürfnissen
gegenüber seiner sozialen Umwelt, seinen Bezugspersonen. Wichtige eigene Bedürfnisse
werden im Bemühen, liebenswert zu erscheinen, verraten. Treibende Kraft ist die
Angst vor Liebesverlust und der damit verbundenen beschädigung des Selbstkonzepts. Alle neurotischen Störungen
basieren auf dieser Angst vor Liebesverlust und der damit verbundenen
Selbstbeschädigung: Neben der Angst vor Liebesverlust ist Scham und Angst vor
Scham das dominierende Gefühl. Selbst- und idealbild
klaffen auseinander.
Vergleich der Fehlentwicklungen
Eine
zusammenstellung der typischen
Fehlentwicklungen im Vergleich der beiden Phasen zeigt Kasten
"Fehlentwicklungen".
1. Anerkennung durch
selbstkongruente Bezugsperson ist ungenügend,
besonders
der Mangel an:
einfühlendem
Verstehen unbedingter Wertschätzung
2.
organismische Erfahrungen wurden:
nicht anerkannt
falsch (nicht "unbedingt") anerkannt
3.
Erfahrungen weil unverstanden: weil nicht ins SK
passend:
versperrt: blockiert verzerrt:
gefiltert oder umgedeutet
4. Symbolisierung ist: fehlend, versperrt falsch,
verzerrt
5.
Integration von bestimmten organismischen Erfahrungen geschieht:
nicht falsch
6.
Selbstentwicklung ist behindert durch:
Fragmentierungen Introjekte
7.
Inkongruenz besteht zwischen:
fragmentiertem Selbst
Selbst-Introjekten und
und (unsymbolisierten) (falsch symbolisierten) Erfahrungen
Erfahrungen
8. Spaltung
besteht zwischen:
fragmentiertem Selbst und
Selbstaktualisierungstendenz
organismischer Erfahrung (Bedürfnis nach Anerkennung)
und Aktualisierungstendenz
(organismischen
Bedürfnissen)
Selbstentfaltung u. selbsterhaltung
Selbstbild und Idealbild
9.
Entwicklungsstufen der Selbststruktur, das Selbst:
bleibt inkonsistent ist bereits in
sich konsistent, bedrohte
Selbstkonsistenz wird geschützt
10.
Zeitpunkt der Störung geschieht eher:
früh ("Frühe Störung") reaktiv (nach 2-3 Jahren)
11.
Offenheit für bestimmte neue Erfahrungen:
fehlend (oder unrealistisch) begrenzt (nämlich nur in Sicherheit)
12. Störung
der
Wahrnehmung:
bei bestimmten Erfahrungen bei bestimmten Selbsterfahrungen
13. Ergebnis: Selbst-Inkonsistenz, Bedrohte Selbstkonsistenz
14. Folgen: Persönlichkeitsstörungen neurotische
Störungen,
Psychopathien, Psychosen Anpassungsstörungen
(typisch: Borderline) (typisch: Hysterie)
Unterschiede:
Persönlichkeitsstörungen und neurotische Störungen
Zur
Herausarbeitung der beiden grundsätzlich zu unterscheidenden Selbststörungen
sei zunächst verziehen, dass es sich um eine Schwarzweißmalerei handelt, die
allerdings Tradition hat. Die gröbste Unterteilung psychischer Störungen war
die Unterscheidung von Neurosen und Psychosen, wobei das Kriterium gewesen war,
Neurosen seien einfühlbar und Psychosen nicht. Nachdem diese Ansicht revidiert
werden konnte, weil auch psychotische Episoden letzten Endes doch in sich
konsequent und verstehbar sind, bleibt doch, dass das Verstehen von Persönlichkeitsstörungen
anders sein wird als das Verstehen von neurotischen Störungen. Im übrigen ist
diese Dichotomisierung auch in den Achsen 1 und 2 des DSM IV zu finden (Achse
1: klinische Syndrome und Störungen, und Achse 2: Entwicklungs- und
Persönlichkeitsstörungen. Diese Unterscheidung lässt sich auch im ICD 10
wiederfinden: F4: neurotische Belastungs- und somatoforme Störungen, und F6:
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen). Im folgenden
wird nicht explizit unterschieden zwischen frühen Störungen, Persönlichkeitsstörungen,
Borderline-Störungen, Psychopathien, Psychosen einerseits und andererseits
zwischen (reaktiven) (Psycho-)Neurosen und Anpassungsstörungen. Prototypen für
diese Formenkreise können sein: Faust einerseits und Woody Allen als
"Stadtneurotiker" andererseits. Ich wähle diese beiden Figuren, da
sie nicht direkt und einseitig als krank bezeichnet werden, vielmehr zeigen,
dass auch sie ihren Charme besitzen:
Faust zeichnet sich durch sein Wissen-Wollen aus,
das er über Gefühle stellt. Seine Bindungsunfähigkeit (zu Gretchen und auch zu wagner sowie Philemon und Baucis) ist
unübersehbar, seine Glückserwartung so fern, dass der Teufel eine Wette drauf
gibt. Faust ist unbeirrbar selbstsicher, er geht über Leichen. Ganz anders der
selbstunsichere Stadtneurotiker, der Image-Probleme hat und es allen recht
machen möchte.
Auch
andere figuren der Literatur
vermitteln anschaulich die beiden Typen menschlicher Fehlhaltungen, z.B. Ellen
und Portman als Neurotiker und Tana und Samuel als Persönlichkeitsgestörte in
Matthias Zschokke’s Roman „Loses Glück“.
Zum Verhältnis beider Störungsformen
Die
Gegenüberstellung der beiden Störungsformen auf gleicher Ebene ist nicht
intendiert, da es sich nicht um eine eindimensionale dichotomie handelt, sondern um einen fortschreitenden
Prozess. Störungen im Ausbau sind abhängig von etwaigen Störungen im aufbau, nicht umgekehrt. Einen Eindruck
der asymmetrie vermittelt der
Kasten "Fundamentale Merkmale"
Phänomenologie der Störung
Die
charakteristischen Erscheinungsweisen beider Krankheitsformen zeigt der Kasten
"Phänomenologie der Störung". Sie liefern die Basis für das verständnis des Unterschieds zwischen
den beiden Störungsformen.
Persönlichkeitsstörung Fragen des charakters Ich weiß nicht, wer ich bin. Was sind denn Gefühle. Ich kann alles zusammen schlagen, aber ich
bin nicht wütend. Ich möchte wegrennen, aber weiß nicht
warum. Depersonalisation, Affekt-Kontrollverlust, Identitätsverlust, ich-dystonen Empfindungen, unsymbolisierten organismischen Erfahrungen Zerrissenheit, Selbstverstümmelungen ich-dyston: "Was mir da passiert, ist mir fremd - das bin
nicht wirklich ich!" "will wissen, wie es geht!" "Du bist
auch nicht ok.!" ("Aber was ist ok.?") Sarkasmus kognitive
Perspektivenübernahme gering: aber: Nachahmung gegen Unsicherheit
über neurotische Störung Fragen
des Stils Wer
bin ich denn, dass XY das mit mir macht. Meine Gefühle
stören mich. Ich bin wütend,
weil XY mich ärgert. Ich möchte wegrennen, weil es mir zu viel wird. Gesichtsverlust (Scham), verzerrt symbolisierten organismischen (und sozialen) Erfahrungen ich-synton: "Das sind
meine Ängste, die gehören (ob ich will oder nicht) zu mir!" "Ich will gefallen!" "Ich will geliebt werden!" ("Was muss ich dafür tun?") "Ich bin nicht ok., du bist ok.!" Selbstironie Mitleiden, Burnout Dienen, Anpassen überangepasst: Mitspielen aus Angst vor Liebesverlust.
"Ich
will es richtig machen!"
„Ich bin nicht
ok.!“
Schmeicheln, Lobhudeln
Identität
Diskrepanz zwischen
Selbst- und Idealbild,
Selbstverachtung,
Angst vor
Liebesverlust,
Lächerlichkeit,
Erniedrigung,
"Mich liebt
keiner!“
Art der Störung:
13. Typische
Aussagen
im direkten
Vergleich
14. Spezifische
Besorgnis vor
15. Ich-Erleben
16. Motivation
17. Bewertung
18. Humor-Ersatz
19. Empathie-Ersatz
20. wertschätzungs-
ersatz
21.
soziale
Anpassung
Besonderheiten des Erlebens
und Verhaltens von Personen mit Persönlichkeitsstörungen
Der erste Aufbau des
Selbstkonzepts geschieht durch die passende und prompte Befriedigung der
primären Bedürfnisse. gesamtorganismische
Spannungen wegen unbefriedigter Bedürfnisse mögen sein: Hunger, Durst, fehlende
Anerkennung oder Nähe, zu kalt, zu langweilig, zu wenig Sicherheit, Ansprache
oder Bewegung, körperliche Schmerzen, Müdigkeit, sozial-emotionale Bedürftigkeit,
Einsamkeit, (cf oben: Kasten "Organismische Bedürfnisse"). Wer als
Kind z.B. nie gehört hat, dass es geliebt wird, oder wer unberechenbaren
Bindungsgefühlen ausgesetzt war (keine stabile Einfühlung erfuhr), weiß mit
diesem Gefühl der Verbundenheit nichts anzufangen: Es spürt es, weiß es aber
nicht zu deuten. Diese unbestimmte Sehnsucht hat, wenn sie unbefriedigt bleibt,
undifferenzierte Folgen: Angst, Aggressivität, Depressivität, Flucht. Einige
der Phänomene sollen für ein anschauliches Verständnis ausgebreitet werden.
Versperrtes Bindungserleben
Die
Unfähigkeit, das eigene bindungserleben
angemessen zu symbolisieren, ist das fundamentale Defizit von persönlichkeitsstörungen, denn es
betrifft die Grundlage einer jeden Entfaltung des Selbstkonzepts und später
unmittelbar die Beziehung zwischen Psychotherapeuten und Klienten. Es soll
zuerst und ausführlicher behandelt werden.
Klientin EZ (frühe Störung) kommt in Therapie, weil
sie das Gefühl habe, dass etwas nicht in Ordnung sei. Genaueres kann sie auch
nach zwanzig Sitzungen (die sie selbst zahlt) nicht ausdrücken. Eine Bemerkung
von mir in diese Richtung machte ihr Angst, sie wäre nicht weiter willkommen,
ungenügend, unfähig und eine zu große Zumutung.
Das
meistgeliebte Wesen sei ihr Hund. Der wird verwöhnt und folgt doch aufs Wort. Eines
abends, als er - in Sichtweite stehend - gerufen wird, kommt er nicht. Er
schaut kurz, dreht sich um und geht ins Haus. Die Klientin fühlt sich gelähmt,
„wie unter einer Glasglocke“. Sie spürt körperlich, dass ihr etwas passiert,
aber sie versteht nicht, was es ist. Mühsam nur beginnt sie zu begreifen, dass
der Hund ihre Sehnsucht nach Verbundenheit verkörpert und dass es eine
Katastrophe bedeutet, wenn diese Verbundenheit aus unerklärlichen Gründen
gefährdet ist.
Sie spürt den Wunsch zu weinen, kann es höchstens alleine
mit Musik. Ihre Sehnsucht, in Verbundenheit mit einem Menschen zu weinen, wird
langsam sichtbar. Sie war bisher für alle aus der engeren und weiteren Familie
Ansprechpartner für deren Probleme, die sie meist bravourös löst. Trotzdem hat
sie immer das Gefühl, nicht echt und ehrlich zu sein und benötigt später so
viel Ruhe und Allein-Sein-Wollen, dass es sie selbst verwundert.
Die Gründe liegen im Elternhaus, das elitär, aber
als gastfeindlich geschildert wird. Die fünf Geschwister dürfen ihre Freunde
nicht ins Haus nehmen. Die Mutter isoliert ihre Kinder, steht aber selbst nicht
zur Verfügung, sie entzieht sich emotional. Der Vater ist gefühlvoller, aber
schwach. Er entzieht sich durch körperliche Abwesenheit. Bedürfnisse nach Nähe
und Verständnis werden von Beginn an frustriert. Die weitgehend mangelnde
Anerkennung der kindlichen Bedürfnisse nach Nähe und Anerkennung lässt diese
Kategorie menschlichen Seins verkümmern. Das Selbstkonzept entwickelt keine
Kategorien von Bedürftigkeit und sozialer Bezogenheit. Konsequent wird auf
Kinder verzichtet, ein Kinderwunsch nicht reflektiert. Die erste Ehe ist gescheitert
(ist kein Thema in der Therapie), die zweite wird eher beiläufig gepflegt (auch
kein thema). Erfahrungen ihrer
Bedürfnisse sind versperrt, ohne dass Rationalisierungen nötig werden. Die
Selbstinkongruenz zeigt sich undifferenziert in einer Unzufriedenheit zu leben
und starken Spannungen: Nachts wird eine Zahnspange zur Schonung der Zähne getragen,
ihr Atem ist gespannt (hoch, flach, stockend) und der Sessel kann nicht locker
besetzt werden. Sie lächelt strahlend über die meiste Zeit und erlebt dies
selbst als einschmeichelnd und falsch. Es ist gelernt und hilft zu überleben.
Ein weiteres Beispiel für versperrte Erfahrung von
Verbundenheit: So brachte sie einmal den Spruch in die Sitzung „Lass dich ruhig
fallen, denn du fällst in die offene Hand und in die zärtlichen arme deiner dich liebenden Eltern“. Im
Wissen, dass ihre Eltern sie vernachlässigt hatten, glaubte ich, sie meinte es
zynisch, aber sie sagte, der Spruch habe sie "interessiert". Meine
Intervention „Er trifft deine Sehnsucht“ traf nicht den erlebten inneren Bezugsrahmen:
„Nein, das hat mit mir nichts zu tun!“.
Klientin FG (frühe
Störung): Nach 20 Jahren Psychotherapie
berichtet sie, dass sie früher nicht gewusst habe, dass sie Menschen braucht.
"Ich habe niemanden gebraucht!". Damals hätten Worte wie Bedürfnis,
Brauchen, Liebe etc. keine Bedeutung gehabt, Liebe eigentlich immer noch nicht,
obgleich sie Personen in ihrer Umgebung hat, die sie braucht, und zwar als
Pappi und Mammi. Sie brauche keine Psychotherapie, sie brauche etwas
Grundlegenderes, Menschen die sich wirklich um sie kümmerten, eben
Eltern (sie ist 38 Jahre alt).
Klientin GS (Borderline-Persönlichkeit): "Ich
will kein Verständnis, ich will echte Hilfe! Hör' auf nur zu reden, hilf
mir!"
Albert Einstein (Persönlichkeitsstörung) über sich
selbst: „In Gleichgültigkeit verwandelte Hypersensibilität. In Jugend innerlich
gehemmt und weltfremd. Glasscheibe zwischen Subjekt und anderen Menschen.
Unmotiviertes Misstrauen. Papierne Ersatzwelt. Asketische Anwandlungen.“
Darüber hinaus ist bekannt, dass Einstein sozial
unsensibel war, im Ernstfall unbelastet durch Gefühle intensiv, andauernd und
höchst abstrakt denken konnte, eine Tochter verleugnete, Frauen verachtete, im
Alter störrisch wurde und viel aneckte.
Klientin FQ (Schizophrenie) schrieb:
"Beziehung, ach du großer gott,
wusste gar nicht was das ist. Mich beziehen können ist das Geschenk, was mir R.
(ihre Psychotherapeutin) überreichte
- schlaflose Nächte finden ein ende."
Klientin SV (Borderline-Persönlichkeit): als Tochter
aus einem Haus religiöser Eiferer verfolgt sie über jahre einmal monatlich den suspendierten Psychotherapeuten
ihrer Kinder bis zu seinem eine Autostunde entfernten Haus, um unerkannt im
Wagen zu warten, ohne ihn zu sehen. Sie liebe ihn nicht, sondern tue es der
Kinder wegen.
Spielerin aus dem Frauengefängnis: Von 2 bis 6 im
Heim, zweimal vermittelt und wieder zurück gegeben. Mit 6 das 3. Mal
vermittelt, dieses mal mit "Erfolg": sie habe sich angepasst:
"Wenn ich unauffällig bin, muss ich nicht zurück ins Heim!". Folge:
bemüht angepasst, gehorsam, lieb, tut den neuen Eltern Gutes an, nicht aus
Liebe oder Angst vor Liebesverlust, sondern aus Berechnung, nicht mehr ins Heim
zu müssen.
Eine
kontaktaufnahme für
Persönlichkeitsgestörte ist weniger spontan, eher bemüht und berechnend. Der
Charme ist künstlich, es kommt zum Schmeicheln
(Johann Wolfgang von Goethe: Wer keine Liebe fühlt, muss schmeicheln lernen, sonst
kommt er nicht aus.).
Anpassung über
Vernunft
Persönlichkeitsgestörte
Personen möchten sich anpassen, nicht um geliebt zu werden, sondern um richtig
zu sein, um eine Identität zu erwerben. Diese Identität wird über den intellekt erarbeitet, wird immer wieder
in Frage gestellt. Modelle dienen der Selbstfindung, anderer Leute
Persönlichkeit werden ausprobiert, verworfen oder adaptiert. Diese art der bewussten Selbstfindung ist
anstrengend und unsicher. Spaltungen (vielleicht multiple Persönlichkeiten?) werden
möglich.
Klient ZU (Borderline-Persönlichkeit): "Ich
habe das jetzt gelernt. Ich weiß jetzt, was ich sagen muss, damit man mir
zuhört. Es funktioniert!"
Misstrauen
Die
Erfahrung, dass Bedürfnisse nicht oder falsch befriedigt werden, macht misstrauisch,
wenn Angebote erfahren werden, die ersehnt sind, aber bisher mit Enttäuschungen
verbunden waren. Die Erfahrung ist: "Ich kriege nicht wirklich das, was
ich brauche, und auch nicht das, was der andere zu geben vorgibt". Aus
diesem Misstrauen erwächst das Bedürfnis nach einer Kontrolle von Nähe und
allen sozialen Kontakten. Persönlichkeitsgestörte brauchen diese Kontrolle über
andere aus Angst davor, selbst manipuliert zu werden.
Zerrissenheit
Widersprüchlichkeit
und Zerrissenheit sind Folgen einer Fragmentierung, die auch in anderen
Symptomen zum Tragen kommen. Häufig sind
folgende Modi des Fühlens und Handelns zu beobachten, die im Wechsel auftreten
und miteinander als unvereinbar empfunden werden:
Allmachtsgefühle oder Angst, verloren zu gehen,
Einsamkeit
oder Angst, vereinnahmt und manipuliert zu werden,
Hass oder
Sehnsucht,
Harmoniebedürfnis oder Launenhaftigkeit,
Idealisierung oder Entwertung,
Dankbarkeit oder Verachtung,
Wünsche
nach Verbundenheit oder Autarkie.
Diese
zerrissenheit beeinträchtigt
Gelassenheit und Identitätsgefühl.
Klient VL (Borderline-Persönlichkeit): "Wann
immer ich mich eingelassen habe, bin ich bestraft worden. Sehnsucht und Angst
wechseln sich ab, beides gesteigert bis zur Maßlosigkeit. Ich weiß gar nicht,
wo ich da bleibe!"
Klientin EZ (frühe Störung) wehrt sich gegen Gefühle
des Beziehungserlebens und ist zerrissen zwischen der Angst vor und der
Sehnsucht nach Verbundenheit. Ihrer andauernden Spannung versucht der Therapeut
auch nonverbal direkt zu begegnen: „Sie können sich fallen lassen – sie können die Äugen schließen – Ich
passe auf sie auf!“ Bei der
Vorstellung, da könnte jemand sein, der auf sie aufpasst, bricht die Klientin
in Tränen aus. Nach wenigen Sekunden fährt sie auf und wehrt sich: „Sie mit
Ihrer verdammten sanften Art!“
Persönlichkeitsgestörte
Klienten werden zerrissen zwischen dem Misstrauen vor Beziehungen und ihrer
Beziehungssehnsucht. Das zeigt sich auch in ihrem vergleichsweise häufigen Therapeutenwechsel.
Klientin EZ (frühe Störung) nach dem dritten Therapeutenwechsel: „Ich gebe mich
jetzt frei zur Adoption.“
Versperrte Schmerzerfahrungen
Klient ZU (Borderline-Persönlichkeit): Mutter habe
ihn gedemütigt, Schwester vorgezogen, ihn vernachlässigt. Er hat Wut auf
Schwester, die die Mutter "gekauft" habe. "Gegen meine Mutter
spüre ich nur Verachtung", Wut ist möglich, Trauer nicht. Trauer und
Schmerz sind im Gesicht ablesbar. Darauf angesprochen, lacht er: „Spür' ich
nicht!“.
Klientin KN (Borderline-Persönlichkeit): Ihr laufen
bei einem Thema über eine Kränkung die Tränen. Auf ihre Schmerzen angesprochen,
fragt sie unwillig: „Wie kommst Du denn darauf!“
Klient WM (Borderline-Persönlichkeit): "Wut und
Angst zu zeigen, war nicht möglich, das auszudrücken wurde bestraft. Nur Eifersucht
blieb als schlimmes Gefühl. Ich war auf meine Schwester eifersüchtig (die nachgeborene war - anders als er - willkommen).
Meine eifersucht wurde
wahrgenommen! Die habe ich in mich reingefressen. Wut und Schmerz kannte ich
nicht."
Klientin EZ (frühe Störung) weint das erste Mal in
der Geborgenheit einer Beziehung (sonst galt immer: Ich zeig dir nichts!) und
äußert erstaunt: „Tränen tun ja gar nicht weh!“
Unverstandene Wut
Klientin BV
(Borderline-Persönlichkeit): will alles zusammenschlagen und verlässt vorsichtshalber
die Psychotherapiegruppe. Einen Anlass kann sie sehen, es sei ein Vorwurf, den
eine zweite Klientin einer dritten machte. Auf die Intervention „Irgendwie bedroht
dich das!“ antwortet sie: „Nein, das hat doch mit mir nichts zu tun!“
In
anderen zusammenhängen:
"Wenn
ich höflich bin, platze ich, wenn ich ehrlich bin, platzen die anderen!"
"Wut?
- Nein nein, ich bin dann nicht
wütend, aber ich möchte ihn umbringen!"
ZU (Borderline-Persönlichkeit): „Ich hasse diese
Frau (Freundin der Mutter)!“ (grinst) -
Th: „und deine Mutter!“ - „Meine Mutter ist schlimmer. - Da
ist auch was, aber ich spüre es nicht.“
HL (Borderline-Persönlichkeit): Klient spürt so
etwas wie Wut, ein Geladensein, das er aber nicht versteht. „Wenn ich mich so
fühle, so geladen, und in ein Lokal komme, wünsche ich mir nur, dass mir einer
blöd kommt. Den mache ich dann fertig!“
Angst vor Gefühlen
Die
unsymbolisierten Wahrnehmungen organismischer Bedürfnisse bleiben unverstanden,
damit bedrohlich. Werden die Gefühle zu stark, drohen sie die Klienten zu
überrollen, machen Angst, und brechen schließlich doch häufig durch. Ein langes
Bemühen, sie zu beherrschen und die damit verbundene und verstärkte Angst, es
nicht noch länger schaffen zu können, verstärkt die Brisanz. Schließlich
brechen sie um so heftiger und ungesteuert, unsteuerbar durch. (Dies dürfte
auch der grund dafür sein, warum
Borderline-Persönlichkeiten in Gefängnissen überproportional häufig vertreten
sind.)
Klient WM (Borderline-Persönlichkeit): "Haben sie nicht auch Angst vor mir, dass ich
ausraste, dass ich Sie angreife?"
Versperrte beschämung
und Schuldgefühle
Klienten
spüren, dass sie nicht ok. sind, dass sie bei anderen nicht landen können. Die ursachen suchen sie bei sich selbst,
sie spüren, dass sie nicht genügen und neigen zu schuldgefühlen.
Klientin FQ (Schizophrenie): "Ich schäme
mich heute darüber, dass ich mich damals
nicht geschämt habe, mich nicht schuldig gefühlt habe, dass ich, ohne Angst,
einfach so drauf los ... . Da muss man sich doch schämen!“
Angst/Panik
Klienten
mit Persönlichkeitsstörungen erleben die Welt und sich selbst als unberechenbar:
sie können ihre Bedürfnisse nicht zielgerichtet äußern. Sie erwarten
Bestrafungen, besonders dann, wenn zunächst Bedürfnisse befriedigt wurden. Sie
entwickeln Ängste, besonders vor:
- dem Verlust der eigenen Identität,
- dem
Verlust der nur mühsam erkämpften Autonomie,
- einer emotionalen Abhängigkeit,
- dem unkontrollierten Ausdruck von Wut,
- der Enttäuschung, doch wieder verlassen zu
werden, weil sie "falsch" sind.
Gewöhnlich
bleiben die Quellen der Ängste verborgen. Die Ängste können nicht symbolisiert
werden und es besteht die Gefahr, dass sie die Klienten überschwemmen. So
geraten sie in Panik und wissen nicht, warum, oder aber sie empfinden die
versperrte Angst nicht wie Klient ZU (Borderline-Persönlichkeit): „Mein Grinsen
ist mein Schutz!“ - Th. „In Wahrheit hast Du Angst!“ - „Ja,
aber ich spüre sie nicht!“
Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme
Viele
Klienten berichten von Selbstverletzungen, z.B. Haare ausreißen, die Haut
ritzen. Sie ermöglichen es ihnen, über den Schmerz das Gefühl zu erlangen zu
existieren. Selbstverstümmelung ist ein Mittel der erzwungenen
Selbstwahrnehmung. So werden sie weniger als schmerzend, eher als beruhigend
empfunden. Ähnliche Ursachen und Wirkungen haben Sich-Wiegen und Jaktationen.
Das "Busenwunder" Ferrari: "Ich will,
dass man mich ansieht, sonst glaube ich nicht, dass es mich gibt."
Klientin FQ (Schizophrenie) über das Erleben von
Fremdsteuerung nach 30 Jahren Psychotherapie: „Ich habe jetzt eine Seele und
die kann mir keiner nehmen.“ Bisher wurde die eigene Identität nicht
zuverlässig gespürt: „Ich lief meiner Seele hinterher.“
Erst nach 35 Jahren mit der diagnose Schizophrenie habe sie das erste Mal gefroren, richtig
gespürt, dass sie friert: "Ich kenne das gar nicht, ich friere richtig!".
(Früher sei das Wetter unangenehm gewesen und sie habe sich entsprechend angezogen.)
Die Reichweite der Skala zur Prozesserfahrung
Es ist (auf Grund der entwicklungspsychologischen
Einordnung des Störungsbildes) offensichtlich, dass die Prozess-Skala von
Rogers (1961) keine angemessene Beschreibung
des Zustandes von persönlichkeitsgestörten Klienten erlaubt. Die Skala besteht
aus einer abgestuften Beschreibung abwehrenden Verhaltens, während das
Verhalten bei Persönlichkeitsstörungen nur wenig durch übliche Formen von
Abwehrverhalten charakterisierbar ist. Personen mit Persönlichkeitsstörungen
benötigen weniger eine neurotische Abwehr, da ihr Selbstkonzept in seiner
Fragmentierung nicht unmittelbar als solches bedroht ist. Sie kommen nicht in
die zwickmühle, anderen zuliebe
sich zu verraten. Ihre autarkie
schützt sie vor schmerzhaften Diskrepanzen zwischen Selbst- und Idealbild. Ihr
Verhalten ist durch sog. frühe Formen der Abwehr gekennzeichnet (z.B.
Depersonalisation) und weitgehend vernunftgesteuert
("automatenhaft"), wenig ängstlich oder aber durch Panik blockiert,
die sie als einen affekt erleben,
der nicht verstanden werden kann. Daher ist eine Einordnung von
Persönlichkeitsstörungen in die Prozess-Skala nur möglich, wenn man sie nach
unten erweitert und eine Vor-Phase einführt (cf Heinerth 1997).
Vergleicht man das Erleben von
Persönlichkeitsgestörten mit dem Erleben, das die erste Phase des
Erlebens-Prozesses sensu Rogers kennzeichnet, so lässt sich feststellen, dass
die meisten Formen des Erlebens, die eine Persönlichkeitsstörung
charakterisieren, nicht vorkommen bzw. eine andere Bedeutung haben.
Beispielsweise wird das Erleben von Klienten in der Ersten Phase
charakterisiert durch: "Gefühle und persönliche Sinngebungen werden nicht
anerkannt, man gibt nicht zu, sie zu haben" (Rogers 1973, S. 137).
Persönlichkeitsgestörte gäben beides zu, wenn sie sie hätten, meist mangelt es
ihnen jedoch daran. Oder: "Persönliche Konstrukte sind extrem starr."
Starr steht hier im Gegensatz zu fließend. Persönlichkeitsgestörte erleben ihre
Konstrukte als brüchig oder wechselnd, also noch nicht einmal als starr, was ja
schon eine gewisse Sicherheit böte. Oder: "Es gibt viele Sperren gegen
innere Kommunikation." Manche Klienten erleben ihre innere Kommunikation
als ich-dyston, z.B. als "innere Instanzen" der Bewertung, die sich
gegenseitig belehren, anweisen, bekämpfen und blockieren ("Das darfst Du nicht!",
"Mach' das endlich!").
Fazit: Das Prozess-Kontinuum
sensu Rogers passt trefflich auf Menschen mit einem in sich konsistenten - wenn
auch nicht richtigen - Selbstkonzept, nicht auf Persönlichkeitsstörungen,
die durch ein fragmentiertes Selbstkonzept gekennzeichnet sind.
Zum Wachstum von
persönlichkeitsgestörten Klienten
Wenn im Laufe einer
Psychotherapie eines persönlichkeitsgestörten Menschen das Selbstkonzept eine
ganzheitliche gestalt gewinnt,
ist häufig zu beobachten, dass dieses Selbstkonzept noch unsicher ist und
geschützt werden muss - wie es bei Neurotikern der Fall ist. Typisch
ist das Phänomen, dass zu diesem zeitpunkt
der zunehmenden integrität des
Selbstkonzepts Beschämung auftritt.
Häufig berichten Klienten,
dass sie jetzt in einen zustand
geraten, der viel schmerzhafter ist als der vorherige - wenn
auch im Wissen, dass es keinen Weg zurück gibt. Andererseits wird auch gespürt,
dass der neue Weg, Kränkungen wahrzunehmen und auszudrücken (zu beweinen), angemessen
ist. Zwei Beispiele:
Klientin FQ
(Schizophrenie): "Statt zu erstarren kann ich jetzt weinen. Da ist ein Unterschied!
das depressive absacken ist was anderes als ein
Schmerz. Schmerz ist ’was unheimlich Frisches!“. Sie lacht.
Klientin KN
(Borderline-Persönlichkeit): „Ja - wie's mir geht - ich
weiß nicht - ich habe geweint - das
war gut. Ja, ich kann jetzt weinen, das tut richtig gut!"
Die verbale empathische
Begleitung durch den Psychotherapeuten lässt jetzt organismische Bedürfnisse zu
Selbsterfahrungen werden, die das Selbstkonzept konstituieren.
Neurotische Verzerrung
Nur wenige Beispiele sollen
als Kontrast den Unterschied von neurotischen Symbolisierungs-Verzerrungen zu
Persönlichkeitsstörungen mit versperrten Symbolisierungen charakterisieren:
Woody Allen:
"Ich würde nie einem Club beitreten, der Menschen wie mich aufnehmen
würde!"
Klientin GG
(Anpassungsstörung): Mit der Selbstüberzeugung „Nur die Würde bewahren!“ kann
sie den Tod ihres Mannes nicht beweinen, so wie sie sich immer schon das Weinen
nicht erlauben durfte. Nach einem halben Jahr der versagten Trauer bricht es
nachts für Stunden aus ihr heraus: Sie sieht dies im Nachhinein als einen
Segen, die Trauerarbeit beginnt.
MJ
(Depression): "Ich habe mich als Clown verstellen müssen, um Anerkennung
zu bekommen. Ich liebe Menschen - sofern die mich bewundern. Meine Frau hat
mich bewundert, ich habe sie geliebt. Da sie aufgehört hat, mich zu bewundern,
läuft meine Liebe ins Leere." Um wieder bewundert zu werden, bleibt er bei
seiner Liebe, verfolgt sie mit seiner Liebe und nimmt in Kauf, entwürdigt und
verletzt zu werden. Die Folge ist ein gekränktes Selbstwertgefühl und eine
verfestigte Vorwurfshaltung mit Depressionen, Gefühlen des Versagens: "Ich
bin nicht liebenswert!"
Klientin QV
(wie alle Neurotiker): "Ich kann nicht Nein sagen! - Das
kann man doch nicht machen! - was sollen die von mir denken!".
Die diagnostisch wichtige
Differenz zwischen Selbstbild und idealbild
ist nur für Neurotiker relevant. Das Selbstideal im falle von Selbst-Lücken ist unklar. Der Wunsch nach etwas anderem
als man ist, entspringt weniger dem Wunsch, für sich oder andere liebenswert zu
sein, als dem Wunsch, sich zu orientieren. Die Selbstkonzept-differenz wird nicht als Inkongruenz erlebt,
sondern eher als ein kognitiver Konflikt, der einer Entscheidung bedarf.
Änderung des Selbstkonzepts
Die Kenntnis der
unterschiedlichen Phänomenologie der Störungsbilder erleichtert ihr verständnis und den umgang mit ihnen. Das spezifische
verstehen erlaubt den Blick auf die jeweilige Besonderheit. Der Kasten
"Änderung des Selbstkonzepts" gibt einen Überblick
Änderung des Selbstkonzepts:
Aktualgenese (hic et nunc)
Bei Störungen in der
Aufbauphase
Ausbauphase
Selbstentwicklung bei versperrte Symbolisierung verzerrter Symbolisierung
Anerkennung einer
durch Empathie durch unbedingte
Erfahrung (zuerst extern) Wertschätzung
Anregung der
Selbstaktualisierung durch (neue) Selbsterfahrung durch Selbstexploration
wichtigste Agenten:
Bezugsperson Individuum selbst, Eltern,
Psychotherapeut Partner,
Freunde, Gott
wichtigstes Agens: Beziehung und Regression Selbstanerkennung:
(reparenting) Selbstempathie
und Selbstachtung
primäre Bedürfnisse Anerkennung der Person und nur Anerkennung:
Befriedigung
von Befriedigung
des
Bedürfnissen
durch Bedürfnisses
nach
Andere Anerkennung
Wachstum Organismus erkennt günstige Organismus blüht auf in
Bedingungen
nicht günstiger
Umgebung
Bedürfnis nach
Anerkennung unbedingte Befriedigung unbedingte Befriedigung
prompt und passend der Beziehung angemessen
bei Erfolg Wachstum: durch Aufbau durch Umstrukturierung
des Selbstkonzepts des Selbstkonzepts
Selbstkongruenz, Offenheit
für neue Erfahrungen
bei Scheitern: Stagnation,
bedingte Selbstanerkennung
Inkongruenz von Selbst und Erfahrung
Ergebnis: Stabilisierung der Abwehr
Offenheit für neue Erfahrungen nimmt ab
Perspektive:
Verfestigung der
Persönlichkeitsstörung neurotischen Störung
|
|
|
Für
die Therapie bedeutet das, dass je nach Störung andere Aspekte der therapeutischen
Haltung wirksam werden. Bei der Persönlichkeitsstörung ist es die Empathie,
besonders im organismischen Bereich, während es für die neurotische Störung die
unbedingte Wertschätzung wird. Die Wertschätzung bei einer Persönlichkeitsstörung
ist zunächst weniger wichtig, weil sie vom klienten
auch gar nicht akzeptiert werden kann. Ohne empathische Fähigkeiten bleibt nur
Misstrauen. Kann dann doch wahrgenommen werden, dass die Wertschätzung wichtig
ist, besteht die Gefahr einer aufkeimenden Angst, vereinnahmt und abhängig zu
werden. Andererseits ist die Empathie für neurotische Störungen weniger
wesentlich als die unbedingte Wertschätzung, weil das Selbstkonzept an sich
bereits alle Aspekte umfasst. Das Individuum ist durchaus in der Lage, seine
Ängste wahrzunehmen. Es ist allerdings nur in der Lage, die Abwehr tatsächlich
abzubauen, wenn Wertschätzung verspürt wird, die unbedingt ist. Für beide
Störungsformen gilt, dass die Selbstexploration das Agens ist, mit der das
lädierte Selbstkonzept konstruiert und repariert wird.
Wesentlich
für die Therapie ist dann auch zu wissen, dass die Befriedigung von
Bedürfnissen je nach Störungsart unterschiedlich zu handhaben ist. Die therapeutische
Situation geht im Klientenzentrierten Modell zunächst nur davon aus, dass als
einziges das Bedürfnis nach Anerkennung befriedigt wird. Es ist das entscheidende
Grundbedürfnis als voraussetzung
für die Entwicklung des Selbstkonzepts. Erst nach genügender Anerkennung durch
empathische Andere ist das Individuum in der Lage, sich selbst anzuerkennen;
und erst diese Selbstachtung ermöglicht eine weitere Selbstentfaltung. Diese
Befriedigung des bedürfnisses
nach Anerkennung bildet die Grundlage der Selbstentfaltung nicht nur in der
Kindheit, sondern auch in der Psychotherapie. Dieses Konzept ist für Neurotiker
das angemessene, es gilt jedoch nicht unbedingt für Persönlichkeitsstörungen.
Da hier Aspekte des Selbstkonzepts nicht entwickelt wurden (z.B.
Bindungsgefühle und ihre Bewertungen) ist es nötig, dass hier die Bedürfnisse
nicht nur auf verbaler Ebene befriedigt werden, denn da fehlt das Verständnis,
sondern direkt auf organismischer. Hier besteht eine Indikation für
Körperkontakt, der als unmittelbarer Sicherheitsauslöser organismisch
funktioniert. Diese Bedürfnisbefriedigung ermöglicht, wie in der Erziehung von
Kleinkindern, eine unmittelbare Bindungserfahrung (s.u.). Die Selbstexploration
dieser Befriedigung von Bedürfnissen, hier der Sehnsucht nach Kontakt, erlaubt
dann den Aufbau des Selbstkonzepts.
Für
das Analogiehaus bedeutet das, dass der Therapeut den Klienten unmittelbar,
sinnlich erfahrbar in die Räume führen muss, die für ihn bisher versperrt
gewesen sind, während es für die Therapie des Neurotikers reicht, im Raum zu
sein und über die Stilfragen zu reden: was passt in diesem Raum und was ist
nicht wirklich Eigenes.
Differenzielle Behandlung
von Persönlichkeitsstörungen und neurotischen Störungen.
Der
Kasten „Uniformität und Spezifität von Symptomen“ erläutert die verflechtung von Störung und Gesundheit
(Selbsterhaltung und Selbstentfaltung) sowie Inkongruenz und seine Folgen.
Dabei wird nicht nur deutlich, dass Persönlichkeitsstörungen und Neurosen
unterschiedliche Symptomausprägungen haben, sondern auch, dass durch die
Inkongruenz im Organismus Spannungen erzeugt werden, die dann durch eine
Verhinderung der organismischen Beantwortung von bedrohung zu gleichen Konsequenzen führen kann. Wenn der
durch die bedrohung bedingte
Stress nicht durch kämpfen, fliehen, täuschen oder erstarren,
so wie es evolutionär vorgesehen ist, abgebaut werden kann, gerät der Organismus
in einen Zustand, der zwangsläufig die Symptome, je nach Veranlagung und
Interpretation, entstehen lässt (Biermann-ratjen
& Swildens 1993, Heinerth 2000). Die Hierarchie der Symptome wird im
unteren Teil des Kastens sichtbar: Eine akute Belastungsreaktion kann
chronifizieren und damit die unterschiedlichen Symptome hervorrufen.
Andererseits wird deutlich, dass bei gleichen Ursachen die unterschiedlichsten
klassischen Symptome auftreten können.
Diese
phänomenologische Unabhängigkeit von Ursache und Symptom rechtfertigt bis zu
einem gewissen Grad die uniformität
der Intervention im Klientenzentrierten Konzept und legt zugleich nahe, dass
für Persönlichkeits- und neurotische störungen
besonderes Verständnis und differentielles Intervenieren nötig sind.
Schließlich
haben in diesem Schema auch psychosomatische Erkrankungen ihren Platz, die
ebenfalls ein Resultat des unter Stress geratenen Organismus sind, der sich
nicht anders zu helfen weiß.
Spaltung der Aktualisierungstendenz:
Inkongruenz zwischen Selbst (wenn "falsch", verzerrt)
Selbstkongruenz
und gesamtorganismischer
Erfahrung (wenn versperrt)
"persönlichkeitsstörungen" latentes,
unbefriedigtes Bedürfnis nach Empathie Suche,
Sehnsucht, Unzufriedenheit, Ärger, Aggressivität Angst
vor Abhängigkeit, neuer Frustration, unkontrollierten affekten Misstrauen
Zerrissenheit Täuschungsbedürfnis "Neurosen" Diskrepanz
zwischen Selbst- und Idealbild Scham,
Schuld, Depression Mangelhaftes Selbstwertgefühl Selbstmissachtung Angst
vor Gesichtsverlust Liebesverlust
Erniedrigung Entwürdigung Selbsttäuschung Selbstöffnung: akkurate Symbolisierung, emotionales und kognitives Gewahrwerden
Kämpfen Fliehen Täuschen
Erstarren
Barriere für den
Ablauf des genetischen Programms,
wenn Kämpfen, Fliehen, Täuschen und
Erstarren die Bedrohung nicht aufhebt
oder Selbsterfahrungen bedrohlich bleiben:
Affekte nicht verstanden werden oder
erfahrungen dem Selbstkonzept
widersprechen.
Akute Belastungsreaktion (unspezifisch,
alle Formen möglich, wechselnd):
Ärger Angst Betäubung Schock
Überaktivität Rückzug Regression Depression
Posttraumatische
Belastungsreaktion:
Dauerwachsamkeit Ängstlichkeit
Bewusstseinseinengung Wertlosigkeit
Unruhe Besorgtheit
Selbsttäuschung Depression
Aggressivität Panik
Dissoziation Selbstzweifel Randale Wahn Paranoia Katatonie.
Symptomgestaltung
Die
Ähnlichkeit der Phänomene, unter denen Klienten leiden, kann unter dem
Gesichtspunkt der Störungsart differenziert gesehen werden. Eine Depression
kann "endogen" sein oder reaktiv, auf den ersten Blick sind beide
Erscheinungsformen identisch und tragen den gleichen Namen. Eine ausbreitung der Symptome einerseits
nach Störungsform und andererseits nach genetisch bedingten Programmen
(entsprechend den evolutionären Stress-Reaktionen: Kampf -
Flucht - Erstarrung
- Täuschung) zeigt folgender
Kasten:
Gefühllosigkeit, Leere neurotische Angst „endogene“
Depression reaktive Depression (Gleichgültigkeit) (Selbstzweifel)
Dissoziation
Persönlichkeitsstörungen neurotische Störungen
Gewalt
Zwang
Narzissmus, Wahn, Hysterie
Symptom
Täuschung
Selbsttäuschung:
Psychotherapie
von Persönlichkeitsstörungen
Psychotherapie für Personen
dieser Störungsart verlangt, verglichen mit der therapie neurotischer Störungen, ein sehr differenziertes verstehen von Phänomenen und Symptomen.
Grundlage ist zuerst die Herstellung einer tragfähigen Beziehung, die
einerseits unumgänglich, andererseits besonders schwierig zu realisieren ist.
Vielleicht ist eine Liste möglicher therapeutischer Angebote hilfreich
(Heinerth 1997):
Einleitung
von Beziehung, Hilfestellungen
Da es bei Persönlichkeitsstörungen
nicht nur um Verstehen geht, da der Klient nicht in der Lage ist, dieses
Verständnis zu erfahren, muss eine Beziehung langsam etabliert werden. Mögliche
erste Maßnahmen sind:
·
Erzählen und Erzählen lassen.
·
Schweigen und Schweigen lassen.
·
Struktur geben, zunächst für den Ablauf einer Sitzung:
sie muss berechenbar werden, mit Anfang und Ende,
sowie mit
Ritualen.
·
Normalität unterstützen: sie
gibt Sicherheit.
·
Orientierung geben, wo immer sie verlangt wird.
·
für Transparenz sorgen: Abläufe, die undurchsichtig
sind, erklären.
·
Informationen geben, wenn sie offensichtlich fehlen, erbeten sind.
·
Einbeziehen und unterstützung
von vorhandenen Ressourcen.
·
Andere Ressourcen einbeziehen:
Gruppenpsychotherapie, Selbsthilfegruppen,
Beratungsstellen, Sozialarbeit, Volkshochschulkurse.
·
Anwalt sein für Bedürfnisse, Interessen, Wünsche, Sehnsüchte.
Dabei geht es nicht darum,
so etwas wie Sozialarbeit zu leisten, vielmehr um die Diskussion von
Möglichkeiten und den Ängsten und Erwartungen, diese Chancen zu nutzen.
Aufbau von Verbundenheit
Häufig
geschieht es, dass Klienten die therapeutische Verantwortlichkeit und
Kompetenz, den Sinn der Therapie und die Ehrlichkeit des Therapeuten in Frage
stellen. Anfänglich kommt es gewöhnlich zu Krisen in der Beziehung und zu
Erwägungen, die Therapie abzubrechen. Hilfreich ist es, dies als Ausdruck des
Erlebens des Klienten anzuerkennen und sich der Tatsache bewusst zu sein, dass
der Sinn dieser Krisen in ihrer Bearbeitung liegt, dass der Therapeut den
Zusammenhang versteht, die besondere Unfähigkeit und die Ängste des Klienten,
und ihn spüren lässt, dass er ihn trotz seiner Aggressivität und trotz seines
eigenen Ärgers nicht wegschicken wird. So kann vereinbart werden, dass man sich
- gleichgültig, wie enttäuschend eine Sitzung gewesen sein mag - im
Bewusstsein, dass so eine Beziehung nicht so leicht und leichtfertig zu
kündigen ist und dass man sich bei allem Ärger förmlich und höflich, wenn nicht
liebevoll, mindestens aber achtungsvoll, zu verabschieden hat. Abschiedsrituale
sind da sehr hilfreich.
Beziehungsangebot
Bei
der Gestaltung des Beziehungsangebotes geht es nicht nur um die Herstellung der
Verbundenheit, einer unspezifischen Sicherheit in der Beziehung, sondern auch
um den spezifischen Inhalt der Beziehung. Es ist nötig, eine Begegnung zu
riskieren, einen wirklichen Austausch von "Selbst zu Selbst", von
"Person zu Person", vorzunehmen. So gehört zum wirklichen Beziehungsangebot
des Therapeuten (innerhalb der Besonderheit von Raum und Zeit) auch ein wenig
die Auskunft über sein eigenes Leben. Die Teilnahme von Klienten mit
Persönlichkeitsstörungen an meinem Denken und Fühlen im Alltag in ein paar
Sätzen zu Beginn einer Therapiesitzung hat mich für sie sichtbar werden lassen,
Transparenz und damit Sicherheit gegeben. Auch wird damit die chance erhöht, paranoiden verzerrungen und Projektionen der Boden
zu entziehen. Unterschiedliche Ansichten über Alltagserfahrungen halfen, die
Unterschiede, damit das eigene bewerten,
zu explorieren.
primäre Bedürfnisse befriedigen
Empathisches
Einfühlen in den persönlichkeitsgestörten Klienten ist von ihm nicht leicht erfahrbar,
Empathie ist verbal häufig nicht zu kommunizieren. Weder ist es für den
Psychotherapeuten leicht, empathisch zu sein, noch kann der Klient eine verbale
Anerkennung durch den Therapeuten sicher wahrnehmen, da Worte nicht mit den
entsprechenden Empfindungen und Affekten verbunden sein müssen. Hier bietet es
sich an, auf frühe Formen der Einfühlung, wie sie in der vorsprachlichen Zeit
vorherrschend sind, zurückzugreifen. Therapeutische Empathie kann dann in
passenden Gesten ihren Ausdruck finden, wenn sie augenblickliche Bedürfnisse
befriedigen. Die prompte und richtige Befriedigung von Bedürfnissen ist dann
der "Empathie-Beweis". Solche Gesten können sein: Körperkontakt (z.B.
im rechten Moment ein an die Hand nehmen) oder die Befriedigung anderer
konkreter bedürfnisse. So ist es
denkbar, dass ich bei durst ein
Glas Wasser bringe, und zwar nicht erst dann, wenn ich ausdrücklich darum
gebeten werde. Die Gratwanderung zwischen einem sich-Aufdrängen und der unmittelbaren Empathie, die durch taten transportiert wird, nicht durch
Worte, sondern durch ein Verhalten, das wie ein Geschenk ist, nicht erbeten
werden muss, ist gewöhnlich sehr schwierig und nur durch das Eingehen eines
gewissen risikos machbar. Dieses
Risiko lohnt, wenn der Klient die nonverbale Empathie-Erfahrung als Grundlage
für verbale Selbstexploration nutzen kann.
Unverständliche
Handlungen des Klienten mitmachen
ich beobachtete in der gruppe eine Klientin, die durch einzeltherapie mit mir in einem vertrauten
Verhältnis stand, wie sie ihre Hände auf ihren Kopf legte und drückte. Ohne
ihre Geste zu verstehen ging ich zu ihr und legte meine Hände auch auf ihren
Kopf. Sie zog die ihren langsam weg, ließ meine liegen, nahm meine, drückte sie
auf ihren Kopf und weinte. Später konnte sie darüber reden. Es war das
Berührtsein von der Hilfe, die sie erfuhr, das Erhalten eines geschenks, das sie nie erbeten hätte,
es war die Versicherung vor der Angst, "nach oben abzuheben", das
Erübrigen einer drohenden Depersonalisation, das Angebot von Sicherheit im Moment
der Bedrohung.
Empathisches Verstehen durch Taten kommunizieren.
Verstehen
sollte bei Persönlichkeitsstörungen nicht nur verbal kommuniziert werden. Das
Ansprechen von Gefühlen ist schwierig, da Gefühle gewöhnlich nicht wahrgenommen
bzw. verleugnet werden. So geht eine einfache Verbalisierung emotionaler
Erlebnisinhalte ins Leere, sie trifft nicht auf ein Selbst, das damit eine
Anerkennung wahrnehmen könnte. Empathisches Verstehen muss ursprünglicher, auch
nonverbal kommuniziert werden. Dabei ist wichtig, nonverbale Signale auch
verbal zu begleiten, da das integrierte Selbst schließlich wesentlich verbal
organisiert ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Flucht in die
Begrifflichkeit die Funktion einer Abwehr haben kann. Diese verbale Abwehr kann
nonverbal umgangen werden. So kann es manchmal wirkungsvoll sein, zur rechten
Zeit zu lachen, die Hand zu nehmen, oder die Haltung oder den Atem spüren zu
lassen.
Akkurates
empathisches verstehen der Gefühle ist mitunter problematisch, da der Persönlichkeitsgestörte
weniger seinem Fühlen als seinem Handeln Bedeutung beimisst. Die auf Grund
seines Verhaltens vermuteten und angesprochenen Gefühle mögen weitgehend
geleugnet werden, so dass die Gefahr besteht, dass sich der Klient auch bei
überprüfbar richtigen Verbalisierungen nicht verstanden fühlt. Kognitive
Aufklärungsarbeit kann hier hilfreich sein. Auch ist die Unterscheidung
zwischen Gefühlen und Verhalten hilfreich. So ist z.B. ein Nähewunsch anzuerkennen,
nicht aber ein entsprechendes Verhalten, Klammern.
Neue Erfahrungen anbieten
Da
Worte nicht ausreichen, müssen Erfahrungen ermöglicht werden, um sie verbal zu
begleiten. So kann es über erlebensaktivierende Methoden in einem angemessenen
Kontext (Heinerth 1976) zu Selbsterfahrungen kommen, die -
richtig begleitet - das Selbstkonzept konstituieren.
Erlebensaktivierende Methoden sind in Misskredit geraten (cf Höger 1995), da
sie, wenn sie unreflektiert als Selbstzweck ohne angemessene Indikation
instruiert werden und ohne die notwendige verbale Selbstexploration,
zerstörerisch wirken können.
Verbale begleitung
aller nonverbalen Interventionen
Was
auch immer geschieht an nonverbalem ausdruck
oder nonverbalen interventionen,
es muss verbal begleitet werden. da
das Selbstkonzept verbal codiert ist, ist es notwendig, alle Erfahrungen,
besonders die neuen organismischen, in Worte zu fassen.
Die Selbstkongruenz des Therapeuten pflegen
Persönlichkeitsgestörte
sind besonders misstrauisch. Der Therapeut wird laufend auf seine Motive hin
überprüft, persönliche Wertungen werden erfragt. Jede Unsicherheit, die nicht
eingestanden wird, wird erspürt, bloßgelegt und kann Ursache für
Missverständnisse und Beziehungskrisen werden. Größte Wahrhaftigkeit und auch
eigene Selbstexploration des Therapeuten sind wichtig. Die Beziehung, die dem
Klienten angeboten wird, ist auch real zu gestalten - wenn auch nur im
vorgegebenen Rahmen. Das Gespür des Klienten für Inkongruenzen auf Seiten des
Therapeuten ist groß: Schnell ist für ihn die gesamte Beziehung fundamental in
Frage gestellt. Häufig weiß er nicht, worin die Inkongruenz besteht, aber er
spürt die Spannung. Er ist für Spannungen sehr sensibel, auch wenn er sie nicht
versteht, weder bei sich noch bei anderen.
Förderung einer selbst erfahrenen Selbstexploration
Persönlichkeitsgestörte
haben ein Selbst, das zu wenig auf eigenen Erfahrungen beruht, zu wenig auf
einem organismischen Bewertungsprozess begründet ist, als dass sicher
gewährleistet wäre, durch Selbstexploration ihr "wahres" Selbst zu
finden. So trägt Selbstexploration nur dann zu einer Selbstentwicklung bei,
wenn auch Erfahrungen gemacht werden können, die eine neue Bewertung erhalten,
und zwar eine organismische. Eine Selbstexploration ohne diese Neubewertung
birgt die Gefahr, dass nur Teile des Selbstbildes stabilisiert werden, die zu
sehr konstruiert, zu sehr erfahrungsunabhängig sind und nicht miteinander
integriert werden können und so Inkongruenz verfestigen. Damit bedarf es
zunächst vor einer Selbstexploration einer neuen Erfahrung und ihrer
Symbolisierung.
Eine
neue Erfahrung wird zuerst durch eine neue und neuartige Beziehung ermöglicht.
So hat sich der Therapeut als Person einzubringen, also eine Kommunikation von
Person zu Person anzubieten. Keine erfahrung
ist fundamentaler als eine begegnung
von Mensch zu Mensch. Dieser Kommunikationsprozess hat das zu leisten, was
ehemals versäumt wurde, nämlich dem Klienten das zu geben, was er früher
vermisste: eine stabile, authentische und emotional sichere Beziehung, die ihr
über die Anerkennung ihrer Emotionen hilft, diese zu symbolisieren und in das
eigene Selbst zu integrieren.
Eigene Wertungen einbringen
Die Wertungen des therapeuten beziehen sich nicht nur auf
seine eigenen Vorstellungen, sondern auch auf die des Klienten. Das scheint dem
Gebot der Unbedingtheit der Wertschätzung zu widersprechen und ist doch
hilfreich dort, wo der Klient sich unter falschen Prämissen abwertet. So fühlen
sich Klienten häufig schuldig, wenn sie sozial oder sexuell missbraucht wurden.
Der Therapeut hat zwar anzuerkennen, dass er die Schuldgefühle als solche im
vordergründigen Kontext versteht, und hat doch auch zu erkennen zu geben, dass
er Schuld und Verantwortung für kindliches erdulden
anders bewertet. Die Verantwortlichkeit für den Umgang in der gegenwart bleibt davon unberührt.
Vermittlung von Wissen und Informationen
Die
dem Bewusstsein nahen Elemente des Selbst sind verbal (in Kognitionen,
Selbstüberzeugungen) organisiert. Bestimmte Überzeugungen und Auffassungen
geraten bei Persönlichkeitsgestörten mitunter in Widerspruch mit Erfahrungen,
die sie in der Psychotherapie machen. Auch ihr kognitives Selbstverständnis
wird erschüttert. Die damit verbundene Verunsicherung mündete in den Wunsch,
emotionale Probleme auch sachlich zu diskutieren. So sind Themen wie die folgenden
relevant:
·
Was ist Realität?
·
Was ist Beziehung, wozu ist sie nötig?
·
Was ist Liebe?
·
Was ist der Unterschied zwischen Gefühl, Denken, Handeln?
·
Warum bedarf es der Abhängigkeit, um Autonomie zu entwickeln?
·
Wo sind die Grenzen der Abhängigkeit?
·
Wo sind die Grenzen einer Beziehung?
·
Wo sind die Grenzen einer therapeutischen Beziehung?
·
Wie gehe ich mit Wut um?
·
Wie gehe ich mit Verletzungen um?
·
Wie gehe ich mit Spannungen um?
·
Wie gehe ich mit zärtlichen Gefühlen in der Therapie um?
·
Wie ehrlich darf ich sein, wie höflich muss ich sein?
Förderung wahlfreier Regression
Das Verstehen
des Gesprächspsychotherapeuten hat sich auf die Erfahrungen zu richten, die das
Erleben des Klienten im Hier und Jetzt bestimmen. Das kann bei frühen Störungen
das Erleben sein, wie es Kinder haben, die noch nicht drei Jahre alt sind.
Regelhaft stellt sich dabei eine Beziehung ein, wie sie zwischen Mutter und
Kind in dieser Zeit üblich ist. Der Klient regrediert und überträgt seine
kindlichen Gefühle auf den Therapeuten. Das bedeutet, dass in der Regression
nicht nur die Geborgenheit des Kindes in den Armen der Mutter gesucht wird, sondern
zugleich auch Angst und Misstrauen auftauchen wie damals, nämlich als Ausdruck
primärer Inkongruenz. Ambivalent werden Sehnsucht und Distanzwünsche erlebt,
die jetzt selbstexplorativ integriert werden können. In der Bearbeitung dieses
Misstrauens liegt die Chance für die Beziehung, die es erlaubt, Nähe aufzubauen,
dem Klienten Sicherheit zu geben, ihn die Sicherheit spüren zu lassen, um in
dieser Sicherheit eine neue Autonomie zu wagen.
Wichtig
ist, dass sich der regressive Prozess auf die Dauer der Sitzung begrenzen
lässt, d.h., dass der Klient die Möglichkeit hat, die Regression zu nutzen und
sie auch zu beenden.
Körperkontakt
In
Phasen der Regression ist sichere emotionale Begleitung nötig. Verbaler Kontakt
mag nicht immer ausreichen, alte Ängste zu überwinden. Hier ist auch
Körperkontakt indiziert (über Indikation von Körperkontakt und seine Praxis
habe ich 1996 berichtet). Die besondere Brisanz von Körperkontakt bei Persönlichkeitsstörungen
liegt in der hohen Wahrscheinlichkeit, dass solche Personen sehr häufig in
ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erfahren haben. Hier sind Misstrauen und
Angst vor Nähe besonders zu respektieren.
Andererseits
ist hier jedoch die Chance gegeben, eine andere als die erlebte, gewohnte und gefürchtete
Art des Körperkontaktes wieder erfahren zu lassen, um Sicherheit zu geben und
um die körperliche Nähe von der zwangsmäßigen Assoziation mit Sexualität samt
Schmerzen, Angst und Ekel zu trennen.
Auch
ohne Regression kann Körperkontakt dazu beitragen, Angst zu reduzieren.
Körperkontakt ist ein unbedingter Sicherheitsauslöser, sofern die Beziehung hinreichend
vertrauensvoll ist.
Förderung der Expressivität
Persönlichkeitsgestörte
Menschen ziehen sich häufig in Ermangelung einer sicher gegründeten Autonomie
in eine Autarkie zurück: "Ich brauche niemanden!". Stolz ("Um
meine Würde zu wahren!") neigen sie dazu, sich von den Menschen
abzuwenden, um Verletzungen zu entgehen. Es ist der Versuch, Gefühle zu verheimlichen,
zuerst vor anderen, schließlich auch vor sich selbst. Ihr Motto ist: "Dir
zeig' ich nichts!". Diese Klienten versuchen, jeden echten und starken Gefühlsausbruch
zu vermeiden, besonders den der Wut (müssen sie doch Gefahr laufen, dass sie
dafür Konsequenzen zu tragen haben), und den des Schmerzes, dessen Erfahrung
kaum symbolisiert werden kann. Sie haben gelernt, dass ihr Schreien nach Nähe
ungehört geblieben ist, ihre Bedürfnisse zu wenig anerkannt wurden. Wenn ein
Klient diesen Mangel erfährt und doch weint, weint er gewöhnlich nach innen,
d.h. er versucht, seine Tränen zu vermeiden, um zu verhindern, dass seine
Gefühle sichtbar werden, und dass er selbst gesehen wird.
Die
Förderung des Ausdrucks durch Ermutigung und Anerkennung erleichtern die
Annahme bedrohlicher Gefühle. Der direkte, wenn auch kanalisierte und ritualisierte
Ausdruck schützt den Klienten und sein Gegenüber, den Therapeuten und die
Beziehung. So ist es ein wichtiger Schritt für Klienten, dass sie zu ihren
Gefühlen stehen und sie ohne Angst zum Ausdruck bringen können, d.h. Mut
fassen, ihre Wut und später den dahinter liegenden Schmerz wirklich auszudrücken,
dass Weinen hörbar wird, laut sein kann. Dadurch bekommen Gefühle wieder ihre
kommunikative Funktion. Der Prozess des Ausdrucks von Gefühlen befriedigt und
verstärkt sich selbst, bis zum Schreien. Die kathartische Wirkung wird durch
die Anerkennung, die der angemessene Ausdruck erfährt, weiter verstärkt, eine
Symbolisierung von Schmerz und Wut gefördert. (Über Kriterien der
Angemessenheit von Psychokatharsis habe ich 1995 berichtet.)
Förderung von Struktur
Eine
Gestaltung des Lebens nur über die Vernunft ist anstrengend. Wenn aber jeder
Intuition und allen Gefühlen misstraut wird, ist eine kognitive Verarbeitung
(zur Selbstbehauptung) wichtig. Tritt dann eine Änderung der Lebensbedingungen
ein, verunsichert das, alles muss neu bedacht werden. Durch die Psychotherapie
können viele Selbstverständlichkeiten verloren gehen, so dass alte Strukturen
fragwürdig werden, neue gesucht werden müssen, um Sicherheit zu gewährleisten.
Dies gilt für die alltägliche Lebensführung und sichtbar auch für die Strukturen
im Umfeld der Therapie. Eindeutige Abmachungen über Termine, Dauer, Bezahlung,
Ferienregelungen sind immer wichtig.
Eine
häufige Frage von Klienten bei neuen Ereignissen ist: "Wie soll ich damit
umgehen?". Alleiniges Verbalisieren der Gefühle ist dann nicht
ausreichend, wenn die Ressourcen für eine eigene Lösung nicht gegeben sind. Es
bietet sich an, dass der therapeut
selbst darüber spricht, welche Möglichkeiten er für sich sähe und was diese
Lösungen für ihn bedeuten würden. Diese Anregungen fördern gewöhnlich -
vielleicht über widerspruch - die
Selbstexploration der Klienten und erlauben die Betrachtung von Strategien, die
der Problemlösung dienlich sein können.
Zur
Strukturgebung gehört auch die bewertung
von rahmenbedingungen: kriminelle
Lösungen, Ehescheidung, berufliche Veränderungen. Die gewachsene Struktur der
Lebensbedingungen der Klienten ist in sich konsequent und resultiert aus seinen
rettungsmaßnahmen. Sie sollte
nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden: In der Psychotherapie geht Akkomodation
vor Assimilation.
Hier
zeigt sich deutlich, dass Psychotherapie bei persönlichkeitsstörungen
nicht nondirektiv sein kann, aber zwingend klientenzentriert.
Förderung einer organismischen Ganzheit
Es
gehört immer auch zum absichtsvollen therapeutischen Handeln, das körperliche
Empfinden der Klienten, das ihnen noch am ehesten zugänglich ist, in Beziehung
zu setzen zu Ereignissen, die sie erlebt haben. Das gilt sowohl für die Affekte,
die diese Ereignisse begleitet haben, als auch für Kognitionen, Begriffe, Sätze
und Selbstüberzeugungen, um die Integration von Emotionen und der kognitiven
Interpretation des Erlebens zu ermöglichen.
Förderung der Identität mit sich selbst
Die
Zusammenführung der ursprünglich unverbundenen Selbstanteile kann durch die Wahrnehmung
dessen, was sicher zur eigenen Identität gehört, gefördert werden. Dazu gehören
Körperempfindungen, z.B. beim Atmen. In Zeiten einer unsicheren Identität
("Ich weiß nicht, wer ich wirklich bin!", "Es gibt so etwas wie
einen Schalter in mir, dann bin ich jemand anderes!") ist die Kontaktaufnahme
mit der eigenen Körperlichkeit hilfreich. Klienten können dann erfahren, dass
ihr Organismus jeweils der gleiche ist, unabhängig davon, ob sie als Automat
funktionieren, sich dem Berufsleben stellen, oder sich in Panik klein und
hilflos fühlen. Diese Einheit ihres Selbst zu spüren ist verwirrend und ein
aktiver Prozess, zu dem Mut und Begleitung erforderlich sind.
Überwinden der Sprach- und Begriffslosigkeit
Bestimmte
Körperempfindungen und Gefühle, wenn sie denn wahrgenommen werden, haben bei
persönlichkeitsgestörten Klienten keine begrifflichen Fassungen; sie müssen
erst wie Vokabeln gelernt werden. Der häufige Satz "Ich weiß nicht!"
repräsentiert diesen Mangel. Er ist Hinweis darauf, dass organismisch etwas
geschieht, das nicht verstanden wird. Eine Anerkennung dieses Geschehens durch
den Therapeuten mag sich als schwierig erweisen. Der Therapeut hat dann
anzuerkennen, dass dieser Satz eine Metapher für unverstandenes Geschehen ist,
nicht dafür, dass wirklich nichts ist - was die Klienten gewohnt sind, sich
selbst vorzumachen.
Umgekehrt
blieben auch bestimmte Kognitionen unverstanden. Sätze wie "Ich vertraue
Dir!" oder "Ich mag Dich!" haben keine Repräsentanz im
Organismus, solange sie nicht mit organismischen Erfahrungen verbunden werden
können. Eine erprobte Methode, Begriffe und organismisches Geschehen in
Beziehung zu setzen, bietet Focusing:
Focusing
Der
Wert des Focusing liegt in der Verbalisierung des Experiencing im Wechsel mit
dem Erleben. Die gemeinsame Verarbeitung des Erlebten mit dem Therapeuten ist
nötig. Auch ein Rapport mit den Klienten während des Fokussierens hat sich als
hilfreich erwiesen. Es geht beim Focusing besonders um zwei Ziele, die im
Hinblick auf die Persönlichkeitsstörungen wichtig sind:
-
Integration von Emotion und Kognition,
-
Integration von Körperlichkeit und Emotion.
Das
Verstehen des Ausdrucks des ganzheitlich reagierenden Organismus und die
Annahme und begriffliche Fassung des Erlebten versöhnen mit dem sonst als fremd
und unbotmäßig erfahrenen Körper.
Schlussbemerkungen
1.
Ich hoffe, in ausführlichkeit und
einer notwendig erscheinenden Redundanz anschaulich beschrieben zu haben, wie
grundsätzlich unterschiedlich Persönlichkeitsstörungen und Neurosen zu verstehen
und zu behandeln sind. Dabei möchte ich abschließend betonen, dass es sich nur
im Extremfall um eine stringente Dichotomie handelt, sondern um zwei
Störungsformen, die sich durchaus überlagern können, mit der Möglichkeit, dass
eine Form in den Vordergrund rücken kann, wenn die andere behandelt wird.
2.
Ich hoffe, das Verständnis für Persönlichkeitsstörungen vertieft zu haben,
damit Psychotherapeuten die unterschiedlichsten und nicht gleich verständlichen
Verhaltensweisen solcher Klienten nicht persönlich nehmen müssen, sondern dass
Angriffe als Symptome verstanden werden können. Aggressive akte vom offenen Misstrauen,
scheinbarer Verlogenheit bis zum therapeutenwechsel
sind verständlich und müssen weder auf eigenes versagen noch auf Bösartigkeit der Klienten zurückgeführt
werden.
3. Alle vorgestellten
Hypothesen fügen sich in einander und erscheinen plausibel. Eine empirische
Überprüfung ist notwendig, in Arbeit, zeitigt interessante zusammenhänge und soll demnächst
publiziert werden.
Literatur
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Anschrift des verfassers:
Prof. Dr. klaus heinerth,
Universität München,
Leopoldstr. 13, 80802 München
Heinerth @ Heinerth de
veröffentlicht:
Versperrte und verzerrte Symbolisierungen.:
Zum differentiellen Verständnis von Persönlichkeits- und neurotischen Störungen
in theorie und praxis. In: Iseli, C.; Keil, W. W.,
Korbei, L.; Nemeskeri, N.; Rasch-Owald, S.; Schmid P. F. & Wacker P. G.
(Hrsg.). (2002), Identität
- Begegnung - Kooperation. Person- / Klientenzentrierte Psychotherapie und
Beratung an der Jahrhundertwende. Köln: GwG-Verlag, 145-180